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„We and the others“

Der Ethnologe Bernhard Tschofen im Interview

redaktionsbüro: Manuela Hötzl
Bernhard Tschofen:
- Worum wird es in dem Symposium „Managing Identities“ gehen? Identität ist ja ein etwas abgenutzter Begriff. Worauf liegt der Fokus?
- Beim Symposium „Managing Identities“ geht es, kurz gesagt, um aktuelle Transformations- oder Veränderungsprozesse in Europa aus der Perspektive der Kulturwissenschaften. Der Terminus Identität ist dabei mehr als Platzhalter und in selbstkritischen Wissenschaften unter Anführungszeichen zu lesen. Solange der Begriff in der Öffentlichkeit so sehr präsent ist, haben wir uns gedacht, dass wir die Sache ernst nehmen sollten. Wir verwenden diesen ja längst dekonstruierten Begriff – wie der Titel anzeigt – in der bewussten Wendung als „Umgang mit Identitäten“. Es geht auch nicht um Identität im Singular, sondern im Plural. Unser Thema ist nicht die Identität einer bestimmten Region, sondern in der Pluralität der Moderne.
- Im Programm des Symposiums fällt auf, dass großteils von Problemstellungen die Rede ist.
- Das ist richtig. Die Kulturwissenschaft der Europäischen Ethnologie versteht sich als Instanz, die versucht genau hinzuschauen, wo mit dem Argument der Kultur soziale Unterschiede durch aktuelle Umwälzungen und die Veränderungen im so genannten „Neuen Europa“ übertüncht werden – oder wo mit Kultur neue Grenzziehungen vollzogen werden. Unser Fach ist nicht nur zukunftsorientiert, sondern beschäftigt sich mit der Vergangenheit der Volkskunde. Die nationale Volkskunde hat sich immer in starker Abhängigkeit vom Nationalstaat und dessen Identitätsbildungsprozessen befunden. Das verpflichtet zur Reflexion.
- Wie reagiert die Ethnologie auf europäische Prozesse?
- Die Europäische Ethnologie folgt nicht allein dem Paradigma großer sozialwissenschaftlicher Theorien, sondern versucht Kultur im Alltag fassbar zu machen. Ethnographie ist der Blick auf die Grammatik des Unscheinbaren und Unbefragten. Denn Globalisierung ist ja nicht nur eine Dynamik großer politischer Bewegungen. Unsere Frage lautet vielmehr: Welche kulturellen Veränderungen passieren im Alltag, im Konsumverhalten zum Beispiel oder auch im Hinblick auf die Sicherheiten der Wohlfahrtsstaaten? Alles unter dem Aspekt der Veränderungen in der EU.
- Haben Sie konkrete Beispiele dafür?
- Ich habe mich mit einer kleinen polnischen „Community“ beschäftigt, die gleichzeitig eine große Wiener „Community“ darstellt. Dabei geht es nicht um die alten Fragen nach Herkunfts- und Aufnahmegesellschaften oder nach Assimilation, sondern um einen neuen Blick auf Migration in der Gegenwart. So wie die Leute aus dem kleinen südpolnischen Dorfleben leben viele pendelnde Migranten diese „Mehrortigkeit“ – teils aus einem Bedürfnis nach Sicherheit und teilweise auch, weil sie durch das Grenzregime der EU dazu genötigt werden. Diese oft teuer erkaufte Mobilität ermöglicht einen höheren Lebensstandard und macht Transkulturalität wirklich wahrhaftig. Ich versuche herauszufinden, wie diese Leute den sozialen Raum im „Dazwischen“ für sich nutzen und damit für sich nicht nur neue „mental maps“ produzieren, sondern sich ihre Lebensform plausibel zu machen versuchen.
- Europa als Chance, das ist der Tenor des Ganzen. Steht man als Ethnologe dem kritisch gegenüber – muss man das?
- Der Punkt ist schon, diese Prozesse der Europäisierung kritisch zu begleiten. Allerdings unter dem Aspekt: Wo dient Kultur auch dazu, soziale Differenzen wegzuargumentieren? Kritische Begleitung der Transformationen in Ost und West heißt aber auch Feldforschung und sein Zelt an den verschiedensten Orten aufzuschlagen, wo diese transnationalen Entwicklungen wirksam werden. Das war für die Europäische Ethnologie noch nie so wichtig wie momentan. Es geht um die Untersuchung des „Fremden“ unter uns, im eigenen Land. Die Regionen dagegen spielen eine wichtige Rolle für das Verstehen des Netzwerks Europa, weil die Vorstellung von Kultur sich unter einem europäischen Denkhorizont gerade neu formiert. Das betrifft auch Staaten, die eigentlich außerhalb der EU-Grenzen liegen, wo eine Art vorauseilende Europäisierung zu bemerken ist.
- Wie macht sich das bemerkbar?
- Das eine ist der Schutz der EU-Grenzen, die den ehemaligen „Eisernen Vorhang“ bei weitem übertreffen. Das andere betrifft die starke Ausrichtung dieser Länder auf die EU, wie etwa in der Ukraine. Dort ist das Interesse an EU-Rahmenprogrammen sehr groß. Das Problem ist, dass sie die Veränderungen im eigenen Land vor einem europäischen Horizont sehen. Das hat vielerlei Auswirkungen und zeigt sich in der Implementierung von Keywords oder in der Denkmalpolitik, wo populäres kulturelles Erbe symbolisch in diesen Prozess hineinfließt. Marx und Lenin wurden dort durch den Dichter Taras Schewtschenko ersetzt. Gleichzeitig mit der ukrainischen Nationsbildung lässt sich zumindest im Westen des Landes eine starke, auf die Spielregeln des Neuen Europa ausgerichtete Regionalisierung beobachten.
- Ist die Heterogenität Europas auch eine Einschränkung in manchen Bereichen?
- Diese vorher beschriebenen Prozesse haben Wissen geliefert, um Identitäten zu festigen, um Grenzen zu ziehen und diesen Prozess auch in die verschiedenen Länder und Regionen zu bringen. Nach dem Motto „We and the others“. Heute müssen wir uns deswegen die selbstkritische Frage stellen, was mit unserem Wissen wirklich passiert. In den Sonntagsreden von Politikern ist das „Ausgrenzen“ ein starkes Argument. Zusätzlich beobachten wir auch Entgrenzungen, das Aufheben der Grenzen des Nationalstaates. Aber überall wo Grenzen aufgehoben werden, werden sie verlagert. Die neuen Grenzziehungen sind längst nicht mehr nur als räumliche Ordnungen zu sehen, sondern werden etwa durch Geschlecht oder soziale Strukturen bestimmt.
- Sind die neuen Beitrittsländer als Newcomer in Europa im Zugzwang, sich eine Identität zu schaffen?
- Einer der Gründe für diese Tagung ist, Wissenschafter aus allen Teilen Europas zusammenzubringen. Es herrschen oft Missverständnisse zwischen verschiedenen nationalen Wissenschaftstraditionen, die durch die unterschiedlichen historischen Voraussetzungen entstehen. Die Frage, die wir uns etwa stellen: Welche Aufgabe oder Bedeutung hat die Wissenschaft für die Gesellschaft? Wir wollen dort einhaken, wo mit Identität Politik gemacht wird, wo Ungleichheit legitimiert oder verdeckt wird.
- Wie reflexiv ist der Zugang zu der eigenen Geschichte? Welche Unterschiede existieren zwischen Ost und West?
- Dahingehend muss man aufpassen. Bei „uns“ gibt es viele unreflektierte Ecken im Alltag. Wir sind nicht die großen Lehrmeister der Reflexion und in der Rolle, osteuropäischen Kollegen zu vermitteln, wie etwas zu tun ist. Das wäre falsch. Vielmehr lernen wir in dieser Beziehung viel voneinander. Auch unser Fach der Europäischen Ethnologie ist schließlich nicht hegemonial konzipiert, sondern im Plural verfasst, und es schließt auch die so genannten „kleinen Ethnologien“ als wichtige Traditionen ein. Nach 1989 muss sich auch im Westen etwas ändern, schließlich ist es nicht mehr dasselbe Europa wie vorher. Diese Prozesse reichen weit in unsere Gesellschaften hinein. Hier besteht bei uns ein Nachholbedarf. Was wir als europäische Ethnologen konkret untersuchen, ist, wie sich die Europäisierung im Alltag ausbreitet. Also in der Kommunikation der Bürger, in der symbolischen Interaktion oder wie sich das Neue Europa in Gesetzen und Ordnungen materialisiert.
- Die Analyse der gegenwärtigen Situation steht also im Vordergrund?
- Wir denken und argumentieren geschichtlich, die Fragen stellen sich allerdings in der Gegenwart. Ein wichtiger Punkt bei der Tagung ist die Analyse neuer Sinn-Strukturen, durch „cultural heritage programs“. Diese bilden die Grundlage der „UNESCO“-Ideologie, gleichzeitig wird damit ganz stark die europäische Idee von Einheit und der Vielfalt der Regionen forciert und Europa kulturalisiert. Das heißt, die europäische Kultur wird aufgefordert, sich auch ein kulturelles Format zu geben – und das nach einem bestimmten Schema. Wer je als Vertreter eines Regionenprojektes eines von diesen EU-Formularen ausgefüllt hat, weiß, welch mächtiges Steuerungselement sich in unserem Alltag breit macht.
- Wenn sie von einem Schema sprechen: Existiert so etwas wie die zehn Punkte „How to become a region“?
- Sicher. Teile davon sind grenzübergreifende Aktivitäten, Evaluierung des Tourismus, ökonomische Neuaufstellung von Regionen, bei denen es darum geht, die großen Agrarbudgets zu entlasten und andere Märkte zu eröffnen. Im Wesentlichen soll der Regionentourismus die Leute auf die Spur von Natur und Kultur schicken.
- Sind die europäischen Kulturhauptstädte ein Beispiel dafür?
- Es gibt Kollegen, die sich damit beschäftigen. Insgesamt betrifft das Thema die Frage nach einer räumlichen Dimension von Kultur. Das sind hybride Konzepte, die zwar mit Verweisen auf Orte und Regionen arbeiten, aber eigentlich schon Transkulturalität erzeugen und nicht mehr eine Art Containerkultur.
- Wird Region an sich zum neuen Markenprodukt?
- Mythenbildung hat sehr viel mit Labelling zu tun und damit, wie man Marken erfindet. Deshalb gibt es „City Imaging“ oder „City Advertising“, alles Termini, bei denen Erlebnisangebote mit kulturellem Raum verbunden werden. Den Menschen nur zu sagen, die Region stehe für dies und das, genügt nicht. Es muss nachvollziehbar, erlebbar und erfahrbar sein. Es geht um das Erlebnis des Raumes. Festivals sind klassische Beispiele dafür, um mit dem Körper im Raum, also mit allen Sinnen, Kultur verständlich zu machen. Man spricht daher auch von einem affektiven Regionalismus – womit leider noch nichts über die Möglichkeiten von Demokratie und Bürgerbeteiligung durch das Herunterbrechen auf den regionalen Level gesagt ist.
- Welche Rolle spielt die Religion für die Kultur Europas?
- Gerade wenn es um die behaupteten Grenzen Europas geht, dann kommt Religion schnell ins Spiel. Auch hier ist Religion nur ein Parameter von Identitätsbildung im Patchworkverfahren. Die klassische europäische Auseinandersetzung, wie im letzten Jahrzehnt aufgrund der Jugoslawienkriege, kreist um die Instrumentalisierung des Nationalen. Und das wiederum zu Gunsten der religiösen Grenzziehung.
- Widerspricht Religion der Idee einer Vielfalt?
- Die EU-Macher basteln immer noch an einer symbolischen Integration. Kultur ist eine starke Waffe, Ökonomie auch, es fehlt jedoch definitiv das wärmende Element. Es gab immer wieder Überlegungen, Religion als kulturreligiösen Aspekt einzubeziehen. Aber diese Versuche scheitern am Anspruch Europas, überall funktionieren zu müssen. Nur dann hat die EU die Legitimität, alle Mitglieder vertreten zu können.
- Ist das Kopftuchverbot in Frankreich ein Zeichen dafür?
- Diese Diskussion verwirrt mich. Abstrakt gesagt, zeigt sich in dem zu beobachtenden Nebeneinander von Widersprüchen bei aufgeklärten Menschen auch die Parallelität der Moderne. Ein Grundproblem, bei dem sich bestimmte Länder, Gesellschaften und Verfassungen schwer tun, Andersartigkeit als modern und ethisch korrekt anzuerkennen.
- Zurück zur Kultur: Welche Rolle spielt sie in Ost und West?
- Museen etwa repräsentieren willkürliche Ordnungen. Sie folgen im Grunde dem Wissen der Volkskunde mit Volksbildungsprozessen: „a nation of provinces“. Dabei wird Heimat zur Meta-Idee von Nation – diese Ordnung galt lange Zeit im Museum. Dann, als erste Auflösungstendenzen der nationalstaatlichen Ordnungen zu spüren waren, wurde dieses Konzept vielen suspekt. Klar ist heute, dass Kultur nie in einem engen Gefäß gemacht wurde und stattgefunden hat und viel stärker von Dynamiken beherrscht war. Mobilität wird im Alltag von Kultur immer präsenter. Regionalismus ist auch immer ein Phänomen der Globalisierung.
- Welche Faktoren, zusammengefasst, werden im Zuge der Europäisierung wichtig?
- Drei Punkte, die auch miteinander konkurrieren: Erstens versteht man darunter den Einigungsprozess der EU mit Blick auf Osteuropa. Zweitens ist es das Nachholen einer Modernisierung – beides trifft die Wahrheit nicht. Drittens wird darunter eine kontinentale Spielform von Globalisierungsprozessen in all ihren Ambivalenzen von politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen verstanden.
- Gibt es eine Ideologie hinter der Ethnologie oder bleibt man wissenschaftlicher Beobachter ohne eine bestimmte Zielorientierung?
- Das Ziel, direkt in die beschriebenen Entwicklungen einzugreifen, gibt es nicht. Das wäre naiv und das Fach ist wegen der unrühmlichen Rolle, die es in der Vergangenheit teilweise gespielt hat, auch besonders zurückhaltend mit den Applikationen seines Wissens. Aber es gibt große Bemühungen, reflexiv an die Dinge heranzugehen und sehr genau zu schauen, mit welchen Argumenten in der Öffentlichkeit hantiert wird – also zu fragen, woher das eigene Wissen eigentlich kommt. Schließlich gibt es nicht mehr die getrennten Welten von Alltags-, Medien- und Wissenschaftskultur. Alles ist miteinander verbunden.
Managing Identities
Region, Space, and Culture in the Process of Europeanization
Conference of Ethnologia Europaea in cooperation with the Institute for European Ethnology of the University of Vienna and the Förderverein Volkskunde FVV
Wien, 13. – 15. Mai 2004
Freitag, 14. Mai 2004: 16:00 - 17:30
„Erste Bank-Forum“: Zur Kultur der Ökonomie. Transformation als Herausforderung für Europa, Diskussion

Bernhard Tschofen, Ao. Univ. Prof. Dr.,
geb. 1966 in Bregenz/Vorarlberg. Nach Studium der Empirischen Kulturwissenschaft (und Kunstgeschichte) in Tübingen (M. A. 1992) und Kuratorentätigkeit am Österreichischen Museum für Volkskunde seit 1995 Universitätsassistent (seit 2001 -dozent) am Institut für Europäische Ethnologie (vormals Volkskunde) der Universität Wien. Mitarbeit an kulturwissenschaftlichen Ausstellungen, Veröffentlichungen u. a. zu Stadt- und Bergforschung, Symbol- und Wahrnehmungsgeschichte, Biographieforschung, Ethnizität und Museologie. Promotion an der Universität Tübingen 1999, Habilitation für Europäische Ethnologie an der Universität Wien 2001.
Ausgewählte Publikationen: Schönes Österreich. Heimatschutz zwischen Ästhetik und Ideologie (1995); Post vom Schönen Österreich. Eine ethnographische Recherche zur Gegenwart (1996, beide gem. m. R. Johler u. H. Nikitsch); Regina Lampert: Die Schwabengängerin (Hg. 1996/2000); Volkskunst. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1995 (Hg. gem. m. H. Nikitsch 1997); Berg Kultur Moderne. Volkskundliches aus den Alpen (1999).


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,April 2004
Link: REPORT online - Link: Netzwerk Kulturwissenschaft. about Bernhard Tschofen -