- MH: Die spezifische Konstruktion der Secession, dass sie von einem Vorstand aus 14 Künstlerinnen und Künstlern mit ihren verschiedenen Interessenlagen geleitet wird, definiert die Kriterien und unsere Entscheidungsprozesse stark. Aber auch das Umfeld: dass man sieht, was die anderen Häuser machen, und dann vielleicht auch schaut, was fehlt und was die eigene Kernkompetenz ist. Die Kernkompetenzen dieses Hauses sind natürlich sehr stark die Künstlerprojekte, dass man Künstlerinnen und Künstlern einen Mut zum Experiment oder Risiko nahe legt, den es in anderen Häusern nicht so gibt, dass sie hier ohne kuratorischen Druck arbeiten können. Natürlich auch, dass ein gesellschaftspolitischer Ansatz verfolgt wird, der heute in der Arbeit von vielen Künstlern und Künstlerinnen, national und international, angelegt ist. Kunst, die versucht, sich in gesellschaftliche Prozesse einzubringen – wenn wir z. B. auf das Jahr 2000 zurückschauen, haben viele Künstlerinnen und Künstler aus einer Art Stellvertreterposition heraus die Problematik der neuen Regierung diskutiert.
Die Einzige, die einen konsequenten Standpunkt hatte, war die Kunst.
- BM: Eine Erfahrung, die ich jetzt interessanterweise in Zentraleuropa mache und die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht hat, ist dieser radikale Schnitt nach der Diktatur. Gesellschaften neigen immer zu Kontinuität, es gibt in der Gestaltung von Kompromissen, von Sub-Kompromissen, von Sub-Sub-Sub-Kompromissen nicht wirklich Situationen, die einen Neuanfang ermöglichen. Etwas, das wir ja auch nach dem Zweiten Weltkrieg sehr stark erfahren haben. Die Aufarbeitung dessen, was im Krieg passiert ist, ist in Österreich unglaublich stark durch die Kunst, durch die Literatur vollzogen worden. Nicht durch die Wissenschaft. Auch nicht durch die Politik.
Die Politik auch der Sozialdemokraten unter Kreisky war ja eher die der Einbindung und der Mehrheiten: „Wir müssen auch dieses nationale Element wieder hereinholen“, und so. Die Einzige, die einen konsequenten Standpunkt hatte, war die Kunst. Und das entdeckt man jetzt in den Ländern des ehemaligen Ostblocks wieder. Die Einzigen, die konsequent eine andere Position in der Gesellschaft einnehmen, sind die Künstlerinnen und Künstler. Deswegen sind sie in Mittel-Osteuropa so wichtig. Der soziale Prozess, sich in einem neuen Kontext als politisches Subjekt zu definieren – das ist das große Thema der Kunstszenen in den zentraleuropäischen Städten. Die Kooperationen, die aufgrund dessen innerhalb der unabhängigen Szene entstehen, sind bei uns schon lange nicht mehr möglich. Und wir als privates Unternehmen, das dort vertreten ist und auch die „Unabhängigkeit“ groß auf unsere Fahnen heften, haben den Auftrag, genau diese Prozesse der Identitätsbildung zu unterstützen. Weil es ja auch unser Interesse ist, dass stabile, freie und unabhängige, sozial verantwortliche Gesellschaften entstehen. Dort sehe ich auch den Verantwortungsauftrag der Erste Bank-Gruppe. Das Spannende daran ist, dass wir Kooperationen über die Grenzen hinweg – und das gilt nicht nur für die Wirtschaft – derzeit nur aufnehmen können, wenn sie auf Augenhöhe mit den Partnern geschehen und wir uns selbst in unseren institutionellen Verfassungen und Gewohnheiten, die wir über die letzten Jahrzehnte hinweg entwickelt haben, dabei infrage stellen. Ohne dieses reflexive Momentum droht in der mitteleuropäischen Zusammenarbeit der Eindruck einer imperialen Geste. Dies gilt es mit allen Mitteln zu verhindern.