Aktuell *Ost Über Uns Archiv Impressum English




„Es geht nur um euren Traum“

Ökonom und Visionär: Jeremy Rifkin

redaktionsbüro: Manuela Hötzl
Jeremy Rifkin:
- Es ist einiges in Europa passiert, seitdem Sie Ihr Buch „Der europäische Traum“ veröffentlicht haben – und nicht unbedingt Positives. Was raten Sie Politikern wie Romano Prodi, wie sie mit der Krise in Europa umgehen sollen?
- Aufwachen! Seid nicht pessimistisch, sondern fühlt euch ein wenig besser angesichts dessen, was in Europa passiert.
- Aber welche Probleme gilt es zu lösen?
- Europa ist sicher in einer schwierigen Übergangsphase. Die europäischen Krisen sind allerdings auch globale: Die Ölkrise, soll heißen das Ende des Energiezeitalters, die globale Erwärmung und die damit verbundenen Naturkatastrophen, der Terrorismus, das alles betrifft mittlerweile auch Zentraleuropa. Dazu kommt das Verschwinden der Arbeit, das auf die intelligenten Technologien zurückzuführen ist. Das war nur eine Auswahl an Themen, die es in Zukunft zu lösen gilt, was ein Nationalstaat alleine nur begrenzt kann.
Wir befinden uns in einer zunehmend komplizierten Welt. Die Ironie der Technologie-Revolution ist, dass sie direkt mit dem Nervensystem des ganzen Planeten verbunden ist. Wir verdichten Zeit und Raum immer mehr. Wir leben in einer komplexen Welt, die uns nicht nur unabhängig, sondern aus psychologischer Sicht verletzbar macht. Der allgemeine Zustand ist der der Verletzbarkeit.
- Sie nennen das „Einheit in Vielfalt“?
- Wir fühlen so, weil wir zwar miteinander mehr verbunden sind, aber auch mehr voneinander abhängig sind. Das Thema Leistungsfähigkeit ist nicht mehr das Thema der Zukunft, sondern das der Abhängigkeit.
Die Qualität des „europäischen Traums“ ist, dass sich die zeitliche, räumliche Orientierung zu verändern beginnt. Eine Intensivierung der Dichte des Austauschs, um einen qualitativen Wendepunkt zu erzeugen. Das bedeutet Kooperation und die Neuerfindung der Identität des Einzelnen. Das sind großartige historische Momente, wie die Erfindung des Buchdrucks. Wir müssen auf einmal zugunsten universeller Menschenrechte und kollektiver Verantwortung denken.
- Kann Europa das so leben?
- Europa träumt einen noch nicht ganz ausgereiften Traum, der sich über drei Generationen sozusagen erst entwickelt hat: durch die Nachkriegsgeneration, dann durch die „Babyboomer“ und schließlich durch die „e-generation“. Es ist der erste Traum der ganzen Menschheitsgeschichte, der ein globales Bewusstsein versucht.
- Wie kann man diesen Traum realisieren?
- Europa hat besondere Eigenschaften und Anliegen, die ihn möglich machen würden: Inklusivität und kulturelle Vielfalt, die europäische Lebensqualität und das Interesse an anderen Kulturen. Wenn man in den USA jemanden nach seinem Traum fragen würde, würde jener antworten: Mein Traum ist der vom persönlichen Erfolg.
Die gesellschaftliche Verantwortung und Humanismus sind wichtige Werte in Europa, die ihren Ausdruck in sozialen Leistungen wie der Gesundheitsversorgung und der Pension finden. In Europa steht immer der Frieden, nicht der Krieg im Vordergrund. Das alles zeugt von einem sozialen und damit im Grunde globalen Bewusstsein. Die Europäer leben nicht, um zu arbeiten, sondern arbeiten, um zu leben.
- Brauchen wir einen Mr. Europa, wie es etwa Erhard Busek fordert?
- Das glaube ich nicht. Europa braucht vielmehr eine junge Generation, die ihre Verantwortung sieht, Europa zu einem sozialen und globalen Ort zu entwickeln, mit anderen Worten, weltweite Standards auszuarbeiten, die stark genug für ein gemeinsames Zusammenleben auf der Erde sind.
Nichtsdestoweniger hat auch der amerikanische Traum Punkte, die dem europäischen Traum gut täten. Die USA waren noch vor fünf Jahren die größte Mittelklassegesellschaft der Welt und gaben jedem die Möglichkeit des persönlichen Erfolges. Das war gut. Nun haben wir jedes Gefühl für eine soziale Verantwortung verloren und der Zustand unserer Gesellschaft ist beschämend.
- Der Wohlfahrtsstaat scheint ein Auslaufmodell zu sein. Manche Bereiche wie der soziale Wohnungsbau werden bereits im Sinne der freien Marktpolitik abgebaut. Was dürfen wir dahingehend noch erwarten?
- In Europa existieren, selbst aus marktwirtschaftlicher Sicht, durchaus sinnvolle Sozialleistungen. Nehmen wir etwa die Bildungspolitik: Europäer verfügen über eine bessere Bildung, leben länger, können länger in Urlaub fahren – sechs Wochen statt der üblichen zehn Tage in den USA.
Von der Warte des Gehaltsschecks aus sieht es in den USA zugegebenermaßen vordergründig besser aus: Wir fahren größere Autos, wohnen in größeren Häusern und haben die größeren Fernseher, aber die Europäer verfügen insgesamt über eine höhere Lebensqualität.
- Dennoch: In Europa besteht doch offensichtlich die Tendenz zu einer neuen neo-liberalen Wirtschaftspolitik.
- Das ist, denke ich, ein Mythos. Die amerikanische Wirtschaft ist in den vergangenen 15 Jahren gewachsen, weil wir ausbeuten, auf Kosten unserer nächsten Generation, die Europäer tun das mitnichten, im Gegenteil, sie handeln verantwortungsbewusst.
- Glauben Sie eigentlich noch, dass Europa die USA als Vorbild sieht?
- Europa blickt inzwischen nicht mehr nur über den Großen Teich, sondern in die ganze Welt, um herauszufinden, was funktioniert und was nicht funktioniert. Allein die Älteren hängen immer noch am US-amerikanischen Modell. Die jüngere Generation richtet ihren Blick nach Dänemark oder Finnland.
- Wie könnte man in Zukunft das Ost-West-Gefälle in Europa ausgleichen?
- Ich habe gerade erst begonnen, in diese Länder zu reisen. Kürzlich war ich in Tschechien beim Ministerpräsidenten zu Besuch, dann in Estland. Sehr interessant. Die jungen Leute dort sind voller Energie, obwohl diese Länder eine so lange, schwierige Zeit hinter sich haben. Die Jungen stehen in den Startlöchern. Sie bewegen sich irgendwo zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Traum: Sie wollen ihre persönlichen Möglichkeiten, aber auch ihre Lebensqualität. Ich denke, dass sie eine neue Lebendigkeit einbringen. Wenn irgendjemand „europäisch“ denkt, dann diese jungen Leute.
- Denken Sie, dass wirklich eine ökonomische Solidarität entstehen kann?
- Die wirtschaftliche Situation ist derzeit sehr hart, aber die europäische Kultur unterstützt in nicht zu unterschätzendem Maß auch eine Art ökonomische Solidarität. Die kulturelle Vielfalt, die sich besonders in den vielen Sprachen abbildet, ist somit auch ein Plus in ökonomischer und politischer Hinsicht.
- Der Streit um eine strengere Einwanderungspolitik allerorts spricht doch eine andere Sprache. Die Solidarität hat offensichtlich auch ihre Grenzen?
- Okay, alle haben Angst vor den Moslems. Es geht dabei aber gar nicht um das Problem Einwanderung, vielmehr um die Angst, die Moslems würden nicht die Vielfalt Europas schätzen. Es gibt noch mehr Vorurteile – aber dann sind wir im Jahr 1932 angelangt. In diesem Punkt kann man von Amerikas Geschichte lernen.
Die kulturelle Vielfalt ist Europas großes Potenzial und gleichzeitig schwierig zu lösen. Prinzipiell sind die Einwanderungszahlen für ein Wachstum derzeit sogar zu niedrig. Europa hat 50 Millionen Einwanderer, bräuchte aber mindestens das Doppelte. Auch die Geburtenrate ist nicht hoch genug.
- Sie setzen so viel Hoffnung in die Jugend. Hat diese nicht längst aufgegeben, sich sozial und politisch zu engagieren?
- Europa ist für die junge Generation das, was früher die USA für die Jugend waren: offen, groß, mit vielen Möglichkeiten und einer großen Portion Optimismus ausgestattet. Die Generation der Babyboomer ist gefangen zwischen der alten Nachkriegsgeneration und ihren eigenen Kindern. Die „e-generation“ ist jedoch vollkommen europäisch.
Ob die Jungen hart genug im Nehmen sind, weiß ich nicht. Es braucht Zähheit, um die Herausforderungen anzunehmen. Sie leben in einer großartigen Zeit, mit vielen Privilegien. Wenn ich zwischen 20 und 30 wäre, würde ich in Europa leben wollen. Es ist ein Labor.
Vielleicht ist die osteuropäische Jugend zäh genug.
- Warum setzen Sie ausgerechnet als US-Amerikaner solche große Hoffnungen in Europa?
- Das erkläre ich am Ende meines Buches. Viele Menschen haben immer wieder nach Amerika geschielt – jahrelang. Sie tun das vielleicht zum Teil immer noch. Aber nun will eine neue Generation europäisch sein. Auch Asien denkt an dasselbe Prinzip eines politischen Zusammenschlusses. Auch wenn Frankreich und die Niederlande kurz innegehalten und sich gefragt haben: Ist das wirklich ein Experiment, das es wert ist? Letztlich, denke ich, wissen sie, es gibt keine Alternative. Alles andere wäre ein großer Schritt zurück. Deswegen habe ich mein Buch geschrieben – es geht nur um euren Traum.
Jeremy Rifkin, 1943 in Colorado (USA) geboren, ist Gründer und Präsident der Foundation on Economic Trends in Washington, D.C., und international als Berater verschiedenster politischer Gremien tätig, zuletzt für die Europäische Kommission. Er publizierte bereits 17 Bücher, wie „ Access. Das Verschwinden des Eigentums. Wenn alles im Leben zur bezahlten Ware wird” oder „Die H2-Revolution. Wenn es kein Öl mehr gibt. Mit neuer Energie für eine gerechte Weltwirtschaft“.
Sein jüngstes Buch „Der europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht“ erscheint gerade in Kroatien und Bulgarien. www.foet.org>

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,September 2005