Aktuell *Ost Über Uns Archiv Impressum English




"Europa ist keine schwache Figur"

Bert Rebhandl im Gespräch mit dem Soziologen Hartmut Kaelble

redaktionsbüro: Bert Rebhandl
Hartmut Kaelble:
- Herr Professor Kaelble, Sie haben über europäische Identitätskonzepte im 19. und 20. Jahrhundert geforscht. Heute reicht die Europäische Union weit nach Osteuropa. Die Ukraine und die Türkei wären gern Mitglieder. Welche Konzepte gibt es, auf die sich dieses große Europa berufen könnte?
- Ich denke, dass es nicht unbedingt politische Programme oder ausformulierte Konzepte gibt, aber was Europa nicht nur für Osteuropa attraktiv macht, das ist, dass es erstens durch die Integration gelungen ist, innerhalb Europas den Frieden zu sichern. Das war sicher vor allem auch nach dem Kalten Krieg eine wichtige Erfahrung. Zweitens hat man es geschafft, die Demokratie zu stabilisieren. Denken Sie an den Bereich der Iberischen Halbinsel, da hat die EU einiges dazu beigetragen. Drittens ist Europa eine Region des Wohlstandes – man möchte durch die Mitgliedschaft selbst Wohlstand erreichen. Wobei in Ost- und Südosteuropa ein viertes Ziel hinzukommt, das die EU erfüllen kann: Das ist die Sicherheit, vor allem gegenüber Russland, weil da noch immer die Erfahrungen mit der Sowjetunion hineinspielen. In dieser Frage wird allerdings auch vielfach auf die USA geachtet, weil die EU weniger militärisches Potenzial besitzt, und daraus erwachsen dann immer wieder Spannungen.
- In Europa wurde der Nationalstaat „erfunden“. Nun geht die Entwicklung in Richtung Staatenbündnis oder Bundesstaat – führt das nicht gezwungenermaßen zu neuen Spannungen?
- Die Spannungen in der EU entstehen nicht so sehr zwischen Europa und der Nation. Der Hauptgrund ist ein anderer. Die Kommission vertritt eine bestimmte Richtung: Sie ist wirtschaftlich liberal bis neoliberal, während viele Europäer soziale Sicherheit sehr hoch bewerten. Insgesamt hat die EU den Nationalstaat aber stabilisiert und wirtschaftlich gestärkt. Sie stellt also eher ein Bündnis zur Rettung des Nationalstaats dar als eine Organisation zur Verdrängung des Nationalstaats. In bestimmten Ländern wie Großbritannien oder Polen herrscht trotzdem ein ausgeprägtes Spannungsverhältnis zu den supranationalen Institutionen.
- Gerade in Polen sind typisch populistische Strategien zu erkennen. Das Land profitiert von der Mitgliedschaft, die Regierung achtet aber mit zuweilen starken Worten auf Abstand.
- Ich bin kein Polen-Kenner, lehre aber immer wieder am Europakolleg in Warschau. Vieles von der Härte und der Kompromisslosigkeit, mit denen die polnische Regierung in Europa auftritt, hat mit inneren Angelegenheiten zu tun. Das Land hat nach 1989 keinen leistungsfähigen, gegen Korruption gefeiten Staat aufgebaut. Das versucht die gegenwärtige Regierung nachzuholen. Sie sieht sich deswegen veranlasst, in allen Richtungen als harter Staat aufzutreten – das wäre eine denkbare Erklärung. Neben der Rhetorik zählt letztlich, wie weit sie in praktischen Dingen kompromissfähig ist. Es gab von dieser Regierung auch Vorschläge wie jenen einer europäischen Armee – da steht wieder der Sicherheitsgedanke im Hintergrund –, das ist durchaus sehr europäisch und geht weiter als zum Beispiel manche britischen Vorschläge. Die jetzige Regierung ist im Hinblick auf Europa nicht unbedingt jene, die die Vorstellung der Mehrheit der Polen einlöst.
- Der Historiker und politische Wissenschaftler Jacques Rupnik hat mit Blick auf Polen beschrieben, dass die Mischung aus Katholizismus und Nationalismus, die einen wichtigen Teil des Widerstands gegen den Kommunismus bestimmt hat, zum Aufbau demokratischer Traditionen weniger beiträgt. Insgesamt beschreibt er, dass vielfach ein Rückgriff auf vorkommunistische Traditionen schwierig ist, weil demokratische Grundlagen fehlten.
- Wenn man die Zwischenkriegszeit betrachtet, hatten wenige europäische Länder eine solide demokratische Tradition. In Deutschland war der Versuch kurzlebig, in Österreich hat er vielleicht ein halbes Jahr länger gedauert, in Italien kam der Faschismus noch früher. Die Tschechoslowakei war dagegen das einzige ostmitteleuropäische Land, in dem die Demokratie nie von innen gestürzt wurde, sondern durch die Nationalsozialisten, und in manchen baltischen Staaten hielt sie auch länger als in Deutschland. Insofern ist in breiten Teilen Europas, in denen wir heute eine stabile Demokratie haben – wie in Österreich – die Zwischenkriegszeit kein Modell. Umgekehrt haben die Erfahrungen mit der nichtdemokratischen Sowjetunion den Blick der vormaligen „Satellitenstaaten“ geschärft. Auch das Image der Demokratie hat sich verändert. Damals war das eine Regierungsform, der man nicht viel zutraute. Seit 40 Jahren hat sich aber in Westeuropa gezeigt, dass sie sehr wohl in der Lage ist, Wohlstand zu schaffen, anders als direkt nach dem Ersten Weltkrieg. Was den Sozialstaat anbelangt, der nach dem Zweiten Weltkrieg ein ganz zentrales Element der Stabilisierung der Demokratie darstellte, so wird er seit 30 Jahren massiv kritisiert. Wenn man aber die Budgets ansieht, werden die Ausgaben massiv ausgeweitet. In Ostmitteleuropa ist diese Ausrichtung auf soziale Sicherheit so groß, dass die Staaten in Relation zum Bruttonationalprodukt ähnlich viel dafür ausgeben wie die westlichen Länder. Die neoliberalen Vorschläge der frühen neunziger Jahre haben sich eigentlich nicht durchgesetzt, es existiert ein europäischer Weg der sozialen Sicherheit, nur sind die Länder aufgrund der wirtschaftlichen Situation nicht immer in der Lage, denselben Schutz zu bieten.
- In vielen europäischen Ländern existiert, unabhängig vom Wohlstandsniveau, ein populistisches Potenzial von rund 20 Prozent der Wahlbevölkerung. Woran liegt das?
- Das ist ein gravierendes Problem. In Deutschland ist der Rechtspopulismus im Moment nicht auf diesem Niveau, das hat mit der Vergangenheit zu tun, in der Deutschland dafür schon schwer bezahlt hat. Entscheidend ist für mich: Alle europäischen Länder, wirklich alle, sind Zuwanderungsländer, weil die Wirtschaft diese Zuwanderer braucht. Den rechtspopulistischen Parteien ist es gelungen, daraus ein Argument zu machen. Zweitens existieren in vielen Ländern wie Italien oder Frankreich große Wählerpotenziale, die früher kommunistisch gebunden waren. Durch den völligen Verlust an politischem Vertrauen in die kommunistischen Parteien gibt es eine Wanderung nach rechts. Drittens nimmt die Armut zu. Und diese sozialen Gründe spielen auch eine Rolle, obwohl viele Rechtsradikale gut bezahlte Jobs ausüben.
- Jacques Rupnik sieht es als wesentliches Charakteristikum Europas, dass es radikale Strömungen inzwischen zu integrieren vermag.
- Man muss die populistische Gefahr ernst nehmen. Es ist eine Zivilgesellschaft vor Ort erforderlich, die zuerst darauf reagieren muss. Aktuell sehe ich keine Gefahr, dass diese Gruppierungen auf nationaler Ebene an die Macht kommen. Ich denke aber auch, dass die EU kein Instrument besitzt, um mit diesem Problem gut umzugehen.
- Die EU verhandelt derzeit mit der Türkei über einen möglichen Beitritt, allerdings nicht in naher Zukunft. Wie sehen Sie die Perspektiven?
- Es gibt viele Gründe, die dafür sprechen: Die Türkei gehört zum westlichen Sicherheitssystem. Außerdem: Sollte es irgendwo ein muslimisches Land mit einer funktionierenden Demokratie geben, würde dieses Projekt dadurch weiter gestärkt. Die Türkei ist inzwischen auch sehr stark mit Europa verflochten, vieles geht zwischen Türkei und Europa hin und her: Personen, Ideen, … Persönlich bin ich Skeptiker, vor allem aus Gründen der praktischen Durchführbarkeit – es würde die EU an Grenzen ihrer institutionellen Kapazitäten bringen.
- Man spricht heute von einer multipolaren Welt. Welche Rolle kann Europa darin einnehmen und anstreben?
- Europa kann sicher nicht das Ziel haben, ein Imperium werden zu wollen – wie die USA, wie vielleicht auch China oder irgendwann Indien. Dazu fehlen die militärische Macht und auch der Wille. Was Europa tun kann, ist, bestimmte Modelle in der Welt vorzustellen: soziale Sicherheit, relativ wenig militärische Intervention, Nachhaltigkeit und Umweltschutz, ein reduziertes Maß staatlicher Gewalt im Inneren – keine Todesstrafe, keinen Waffenbesitz. Europa ist auf dem Weltmarkt der wichtigste Händler, auf dem Weltbildungsmarkt nur knapp hinter den USA, mit einem Wort: Es ist keine schwache Figur, die etwas sagt und dann doch nicht gehört wird.
Das Gespräch führte Bert Rebhandl. Er lebt als freier Journalist und Autor in Berlin.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,März 2007
Link: REPORT online - Link: Prof. Dr. Dr. h.c. Hartmut Kaelble. Humboldt-Universität, Institut für Geschichtswissenschaften , Berlin -