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Der Wiener Marktforscher Rudolf Bretschneider, Geschäftsführer des Fessl & GFK-Instituts, sammelt Daten über Osteuropa. Was verrät sein Datenberg über die Menschen im Osten Europas?

Was essen, was lieben, wie denken die neuen EU-Mitglieder?
Ein Gespräch über angeblich faule Polen, moldawische Blumenmärkte, alkoholfreies Bier in Russland, das Sammeln von Witzen in totalitären Zeiten und die Gründe für das Ausbleiben politischer Unruhen nach der Wende.

„Ostblock? Den gab es nie!“

redaktionsbüro: Florian Klenk
Rudolf Bretschneider:
- Herr Professor Bretschneider, Sie sammeln Daten über osteuropäische Märkte. Beginnen wir bei etwas Alltäglichem: Warum sehen Waschmittelverpackungen im Osten oft so völlig anders aus als bei uns?
- Wenn Sie in einem Markt erfolgreich sein wollen, müssen Sie seine Besonderheiten verstehen lernen. Es gibt verschiedene Traditionen, die man kennen muss. Die Farben der Verpackung zum Beispiel. Sie können völlig unterschiedliche Bedeutungen haben. Auch die Größe der Packung kann regional unterschiedlich gefragt sein. In Polen etwa verkauften sich nach der Wende seltsamerweise kleine Waschmittelpackungen besser, obwohl die großen Pakete billiger waren.
- Warum das?
- Die Leute wollten damals nicht so viel Geld auf einmal im Voraus auslegen. Außerdem hatten die großen Packungen in den üblichen kleinen Wohnungen der Polen nicht so gut Platz.
- Welche Märkte verändern sich momentan am schnellsten?
- Der Dienstleistungs-, der Telekommunikations- und der Nahrungsmittelmarkt.
- Was essen Osteuropäer denn zurzeit gerne?
- Convenience Food und Fertigprodukte werden stärker nachgefragt. Die Zeitknappheit im Osten nimmt zu. Doch auch da sind landesspezifische Traditionen wichtig. Jedes Land will seine eigenen Teigwaren. Manche wollen mehr Erdäpfel, andere mehr Reis. Diese Traditionen muss man kennen, um erfolgreich zu sein. Ein Beispiel: Die Amerikaner wollten in Moskau Anfang der neunziger Jahre alkoholarmes Bier testen. Ich sagte: „Es ist Zeitverschwendung, das Produkt dort zu testen. Ihr könnt es verkaufen, den Russen wird alles schmecken, weil es in Russland nichts zu kaufen gibt.“ Es wurde damals ja sogar mit Marlboro bezahlt. Doch siehe da: Die Russen haben über dieses alkoholarme Bier gelacht. Sie wollten es nicht.
- Es gibt bei uns noch immer viele Klischees über den Osten. Die einen warnen vor faulen, kriminellen Banden. Die anderen haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Wenn Sie auf ihren Datenberg blicken: Wie sieht die Wirklichkeit tatsächlich aus?
- „Den Osteuropäer“ gibt es natürlich nicht. Wir müssen begreifen, dass man alle Klischees von früher vergessen sollte. Die Länder, die man am besten „Central Eastern Europe“ nennt, waren nie ein Ostblock und sie sind es auch heute nicht. Sie haben sich immer als eigenständig empfunden und es gab stets regionale Besonderheiten. Agrarische Gesellschaften zeigen heute wie damals andere Mentalitäten als Industriestaaten oder urbanisierte Staaten.
- Gibt oder gab es Gemeinsamkeiten?
- Viele Leute hatten damals keine bunte Zukunftsperspektive - was immer sie auch unternehmen wollten. Die Zukunft war gleichförmig. Mit dem Umstieg auf den Transformationsprozess ist die Zukunft bunter, aber auch unsicherer geworden. Die Gesellschaften sind vielfältiger. In der Bevölkerung machen sich unterschiedliche Geschwindigkeiten und Individualisierungstendenzen bemerkbar.
- Wer zählt zu den Gewinnern?
- Vor allem Menschen im Alter um die 30 haben zum Teil noch zu totalitären Zeiten in einem langwierigen Schulsystem eine sehr gute Ausbildung genossen. Das, was man „human resources“ nennt, ist bei dieser Gruppe besonders ausgebildet. Wir sehen das an der Zahl der Menschen, die eine zweite und dritte Sprache beherrschen. Viele haben Russisch gelernt, wollten es aber damals nicht sprechen. Heute entdecken viele wieder den Wert dieser Sprache. Erstaunlich viele Menschen können auch Englisch und Deutsch - vor allem in Tschechien. Der Lernwille ist außerordentlich hoch, da die Menschen wissen, dass der berufliche Bereich die einzige Chance für den persönlichen Aufstieg ist. Als wir Anfang der neunziger Jahre unsere ersten Büros des Fessl & GFK - Instituts im Osten eröffneten, waren wir vom relativ hohen methodischen Know-how und der Sprachgewandtheit jener Gruppen überrascht, die mit Sozialforschung zu tun hatten. In Sachen Fragebogentechnik, Stichprobentechnik und EDV-Analyse waren die Leute gut. Sie pflegten lange, aber auch ungewöhnliche Traditionen.
- Zum Beispiel?
- Es gab Forscher, die systematisch - vielleicht für das Propagandaministerium oder andere staatliche Stellen - Witze gesammelt hatten, um sie als Indikatoren der Entwicklung zu verwenden. Sie saßen auf einem riesigen Pool von Witzen. Ob sie damit sehr erfolgreich waren, weiß ich nicht. Ich habe übrigens auch einige Zeit - unsystematisch - Karikaturen aus Ost- und Mitteleuropa gesammelt, weil sie viel über die wirtschaftliche Lage aussagten. Ich erinnere mich an eine Karikatur, die rund um 1990 in Ungarn verbreitet wurde: Zwei Bettler stehen an einer Hausmauer und halten gemeinsam einen Hut. Daneben steht ein Schild: „Joint Venture“. Damals hatten alle in Ungarn ein Joint Venture gebildet. In Russland gab es diesen Cartoon, wo ein Geburtshelfer ein Baby hochhebt und sagt: „Komisch, das ist schon das dritte Kind heute, das mit einer kugelsicheren Weste auf die Welt kommt!“
- Haben die Bevölkerungen Osteuropas den Markt- und Sozialforschern eigentlich gerne von ihren Gewohnheiten berichtet? Oder waren sie misstrauisch?
- Es gab überhaupt kein Problem, Daten zu sammeln. Ganz im Gegenteil: Es war so, dass die Leute gleich ihre ganze Lebensgeschichte loswerden wollten. Man hat uns anfangs mit einem Beschwerdebriefkasten verwechselt. Es war ja vielleicht das erste Mal, dass diese Leute ihre harten Lebensgeschichten ungestraft berichten konnten. Wir haben keine Ahnung, wie viel sich zum Positiven entwickelt hat!
- Gleichzeitig gibt es noch immer fürchterliche Armut. Wie lange wird es dauern, bis sie bekämpft ist?
- Es wird sie noch lange geben. Doch in unseren Zeitungen werden die negativen Bilder zu häufig transportiert. Dabei stimmt der Pessimismus nicht einmal mehr in Moldawien, das ständig als Armenhaus Europas bezeichnet wird. Die Moldawier kränken sich darüber. Sie haben wahnsinnige Probleme mit Migration, Prostitution und Kriminalität.
Wenn Sie nach Chisinau kommen, finden Sie auseinander bröckelnde Häuser, deren Trümmer auf die Straße fallen und die niemand wegräumt. Aber daneben sehen Sie mittlerweile auch ganz moderne, saubere Geschäfte und es gibt einen 300 Meter langen Frischblumenmarkt. Man fragt sich, wer sich so viele Blumen leisten kann, wenn es nur arme Leute gibt.
- Und? Wer kann diese Blumen kaufen?
- Wenn Sie sich die offiziellen Statistiken ansehen, drängt sich die Frage auf, wie die Leute bei den Einkommen, die das statistische Amt vorrechnet, überhaupt überleben können. Was man dabei übersieht, ist der enorme schwarze oder graue Markt, diese anderen Formen der Ökonomien, die in den offiziellen Statistiken nicht aufscheinen.
- Müssen Sie neben der Marktforschung auch Schwarzmarktforschung betreiben?
- Schwarzmarkt ist vielleicht eine zu kurz greifende Etikettierung. Ich würde eher von einer „Subsidenzwirtschaft“ sprechen. Die Leute pflanzen eben - so wie wir in den fünfziger Jahren - im Garten keine Blumen, sondern Gemüse an, sie helfen einander bei der Ernte, sie lagern Nahrungsmittel, indem sie diese über den Winter einlegen. Wir haben das vor Kurzem auch noch getan, nur haben wir diese Versorgungstechniken vergessen.
- Gleichzeitig finden wir in den Städten der armen osteuropäischen Länder modernste Geschäfte.
- Ja, denn viele Entwicklungen verlaufen rascher, als sie in Österreich geschehen sind. Viele Besucher Ungarns oder Polens sind überrascht, wenn sie dort diese Super- und Hypermarkets - modernere Einrichtungen als zu Hause - sehen. Vieles ist großzügig und übersichtlich geworden.
Manches Vorurteil über den „Osten“ kann man sich heute abschminken. Die Leute kommen nicht mehr nach Österreich um einzukaufen. Sie finden die Angebote - günstiger und wohl sortiert - zu Hause. Sie wollen das modernste technische Equipment, die neuesten PCs und sind auch in der Internet-Welt erstaunlich fortschrittlich unterwegs. Die tschechische Bevölkerung ist etwa gleichermaßen mit Internet ausgestattet wie die Spaniens und Portugals. Slowenien liegt auf unserem Niveau.
- Wir müssen unsere Klischees demnach neu erfinden?
- Viele unserer Klischees waren dumm und gehen auf ganz alte Vorurteile zurück. Es hieß immer: Die Polen sind faul, sie können nicht arbeiten. Die Polen pflegten hingegen folgenden Witz: „Ihr tut so, als ob ihr uns bezahlt; wir tun so, als ob wir arbeiten.“ In dem Moment, wo in Polen ein anderes Wirtschaftssystem herrschte, wurde fleißig gearbeitet. Jetzt kennen Polen keine Ladenschlusszeiten mehr, nur Ladenöffnungszeiten. Sie sind unglaublich fleißig. Auch dieses Mafia-Klischee betreffend Russland ist überholt. Heute sehen wir in Moskau und St. Petersburg eine kleine, stetig wachsende Mittelschicht, die reisen und konsumieren will. Diese Leute schmeißen nicht mit Geldbündeln herum, aber sie können sich eine kleine Reise ins Ausland leisten.
- Was sind die erstaunlichsten Schlüsse aus all ihren Daten?
- Osteuropa ist keine fremde Welt. Doch man konnte dort bis vor Kurzem viele Phänomene bestaunen, die es in Österreich das letzte Mal in der Nachkriegszeit gegeben hat. Etwa diese Nachtmärkte in Moskau: Auf der Außenringautobahn existierte ein schwarzer, aber geduldeter Ersatzteilmarkt, auf dem die Kunden mit Taschenlampen auf die Suche gegangen sind. Das größte Wunder ist, dass trotz unglaublicher wirtschaftlicher Schwierigkeiten der vorhandene Unmut in demokratischen Wahlen aufgefangen werden konnte. Es gab viele Regierungswechsel, aber keine blutigen Unruhen. Die Geduld der Bevölkerung hat ausgereicht, um aggressive Auseinandersetzungen zu verhindern. Die Aussicht auf einen Beitritt zur EU war dabei sicher entscheidend und wichtig.
Rudolf Bretschneider ist Geschäftsführer des Fessl & GFK-Instituts und Vorstandsmitglied des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM). Er ist als Lehrbeauftragter an der Universität Wien am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft tätig. In den Jahren 1986 bis 1993 fungierte er als Herausgeber der Zeitschrift „Wiener Journal“. Publikationen: u. a. „Maß genommen“ (1999), „Konsumgesellschaft“ (2000), „Menschen - Marken - Meinungen“ (2000).

Florian Klenk ist Redakteur der Wiener Stadtzeitung „Falter“ und hat u. a. 2004 den Leopold-Ungar-Medienpreis für besonders engagierte journalistische Arbeiten über soziale Themen erhalten.

kontakt.erstebankgroup.net/magazines/issue7/stories/Ostblock_den+gab+es+nie/de, www.idm.at
erschienen im "Magazin für Kontakt d. Erste Bank Group", issue7