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Die slowenische Philosophin Marina Gržinic, seit letztem Jahr Professorin für Konzeptuelle Kunst an der Akademie der Bildenden Künste in Wien, kommt aus der Undergroundszene Ljubljanas. Diese Herkunft und die „Verschränkung von Theorie und aktivistischer Praxis“ unterscheidet sie wesentlich von ihrem Landsmann und Kollegen Slavoj Žižek. Mit Birgit Langenberger sprach sie über ihr Buch „Fiction Reconstructed“, in dem sie, ausgehend von dem Ost-West-Gegensatz, einen neuen, symbolischen Kulturraum definiert. Der Begriff des Postsozialismus steht dabei als Kontrapunkt zum Terminus „Ost“, der den politischen, sozialen und kulturellen Kontext ausklammert.


Marina Gržinic (margrz@zrc-sazu.si) ist Doktor der Philosophie und arbeitet am Institute of Philosophy am ZRC SAZU (Scientific and Research Center of the Slovenian Academy of Science and Art) in Ljubljana. Sie ist außerdem als freie Medientheoretikerin, Kunstkritikerin und Kuratorin tätig. Marina Gržiniæ beschäftigt sich seit 1982 mit Videokunst. In Zusammenarbeit mit Aina Smid hat sie über 30 Videoarbeiten, Kurzfilme, Medieninstallationen, Webseiten und interaktive CD-ROMs (etwa für das ZKM, Karlsruhe, Deutschland) realisiert.
Bücher und zuletzt veröffentlichte Texte:
- Marina Gržinic: In a Line for Virtual Bread. Time, Space, the Subject and New Media in a Year 2000, Ljubljana 1996,
- Marina Gržiniæ: Fiction Reconstructed. New Media, Video, Art, Post-socialism and the Retro-Avant-Garde.
- Essays in Theory, Politics and Aesthetics, Koda Ljubljana 1997.

Birgit Langenberger ist promovierte Philosophin, Kultur- und Politikwissenschafterin und Übersetzerin in Wien. Ihre Schwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Rechtsphilosophie, öffentlicher Kunst/Kultur und politischer Praxis.

Ost/West-Kunst oder die Möglichkeit einer besseren Welt

redaktionsbüro: Birgit Langenberger
Marina Gržinic:
- streichen in Ihrem Buch „Fiction Reconstructed“ den unterschiedlichen Blick westlicher und östlicher Beobachter auf den Zusammenbruch des Kommunismus heraus. Der Westen setzt ihn üblicherweise mit dem Fall der Berliner Mauer an, Sie jedoch betonen, dass aus ex-jugoslawischer Perspektive der Beginn der neuen Ordnung mit dem Tod Titos 1980 erfolgte, also bereits 10 Jahre früher. Was ändert sich durch dieses verschobene Datum?
- Auf die früheren totalitären Länder des Ostens wird ein totalitärer Blick geworfen, indem offensichtliche Unterschiede zu einem einzigen subsumiert werden. Das kann man so nicht stehen lassen. Die Frage ist, wie Geschichte rekonstruiert wird. Meine These ist, dass in Ex-Jugoslawien bereits vor dem Fall der Mauer mit der Heranbildung des Untergrundes und dem Kampf für eine Bürgergesellschaft, für eine Besserstellung der Schwulen und Lesben, mit ökologischen Bewegungen und der Friedensbewegung in den siebziger und achtziger Jahren eine wesentliche Veränderung eingesetzt hat. Es geht doch in Wirklichkeit um einen geistigen Raum („mental space“) zwischen dem Balkan und den Ländern, die unter Sowjeteinfluss standen. Die kulturellen Hintergründe im Osten sind jedoch von Land zu Land sehr unterschiedlich. Auch eine angebliche kulturelle Unterentwicklung hat nie existiert. Diese Welt kann nicht in Blöcken verstanden werden, damals wie heute. So erscheint die Konstruktion der Geschichte immer künstlich.
- Hat sich dieser Blick mit dem EU-Beitritt vieler Länder des Ostens verändert oder gibt es eine Kontinuität?
- Nach der Konstruktion des Neuen Europa taucht ein neues Phänomen auf, das das Gedächtnis Ex-Osteuropas auslöscht. Während es vorher geheißen hat, dass es nie genug Europa geben kann und der Fall der Berliner Mauer endlich diesen verloren gegangenen Teil Europas wieder zurückbringt und zu einem Teil der Familie Europas macht, ist es heute umgekehrt so, dass dieser Verlust nicht reflektiert wird, wir werden nur integriert. In dieser Hinsicht ist der Osten immer fehl am Platz („out of joint“).
- Kann dies als eine doppelte Auslöschung („double erasure“) verstanden werden, also als eine Auslöschung der Erinnerung an die sozialistische Vergangenheit sowie eine gegenwärtige Auslöschung der Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern des Ostens?
- Auf jeden Fall, deswegen kann man sagen, dass es zwischen der Ersten und der Dritten Welt eine nichtexistierende Zweite Welt gibt. Über einen Prozess der „McDonaldisierung“, einer überschnellen Integration und Historisierung werden Dinge gleichzeitig ausgelöscht – woraus sich eine angeblich reine Einheit Europas herstellen soll.
- Sie sprechen von „einem“ Jugoslawien. Aber war Jugoslawien nicht schon vorher sehr heterogen – auch in kultureller Hinsicht?
- Ich bin keine Nostalgikerin, die sich in romantischer Manier nach einer Einheit Jugoslawiens sehnt. Doch meiner Meinung nach waren die Unterschiede nicht so sehr kultureller Art. Die Zerstörung Jugoslawiens erfolgte durch verschiedene politische Lobbys, Eliten, zusätzlich zu dem im ganzen Staat vorherrschenden ökonomischen Ungleichgewicht. Trotzdem gab es einen aktiven kulturellen Austausch zwischen Belgrad, Zagreb und Ljubljana, Sarajewo und Skopje und sogar einen gemeinsamen geistigen Raum („mental space“) im künstlerischen und kulturellen Bereich – viel mehr, als wir zu denken wagen. Deswegen nannte ich die spezielle Avantgardebewegung, die aus dem Osten kam, „Retro-Avantgarde“. In diesem Schema wurden Belgrad, Ljubljana, Zagreb und Sarajewo auch mit dem gesamten ex-russischen Territorium in einigen konzeptuellen Bewegungen verbunden. Durch zeitgenössische Produktionen und durch radikales Denken bestehen auch heute noch mächtige, wichtige Zusammenhänge zwischen diesen Zentren – verbindend ist die Reflexion über den Postsozialismus.
- Den Kunstinstitutionen fehlt die Finanzierung. Spaltet sich damit auch die kulturelle Szene?
- Ja, aber auch deswegen, weil die ganze Idee von Kultur auf den Kopf gestellt wurde. Kunst und Kultur spielen eine große Rolle im Westen, doch die Frage ist, wie man auf kultureller Ebene denken und agieren kann. Es gilt auch für Ex-Jugoslawien, dass es nicht möglich ist, radikal und theoretisch nur von einer nationalen Perspektive aus zu denken, da diese immer die Perspektive des Staates und der Elite wiedergibt. Die postkonzeptuellen Untergrundproduktionen in der zeitgenössischen Kunst sind wohl miteinander verbunden, aber nicht so sehr in Bezug auf nationale Einheit, die immer ein Produkt der traditionellen Kultur ist, sondern immer in Bezug auf die Frage, wie eine andere Art von Kultur aufgebaut werden könnte.
- Welche Funktion hat eine postmoderne ironische Kunst im Osten erfüllt? Und wenn diese nur negativ war, wie würde ein positives Konzept für die Idee von politischer Emanzipation ausschauen?
- Die konzeptuelle Bewegung in Russland, aber auch die AptArt in Wohnungen arbeiteten mit Ironie und Parodie. Einige Künstler Ex-Jugoslawiens versuchten jedoch etwas anderes. Sie nahmen die sozialistische Self-Management-Ideologie, die eine Art dritter Weg, eine blockfreie Bewegung war, beim Wort. Ihr Versuch, innerhalb dieser ethischen, sozialistischen Rhetorik, die sehr ideologisch war, zu operieren, stellte sich am Ende als viel mehr verstörend für den Sozialismus und den Staat dar. Sie nahmen die Dinge genau so, wie sie geschrieben und gesagt wurden. Das Resultat dieser Vorgangsweise war absolut positiv, aber auch absolut erschreckend. Weil es ohne Parodie verstanden wurde und, mit der absolut anderen Realität der Gesellschaft konfrontiert, die Dinge auf den Kopf gestellt hat. Die Frage, wie die Geschichte anders geschrieben werden kann, welche Kunst sich in die Geschichte einschreiben wird und welche nicht, ist eine Frage nach der politischen Ebene der Kunst. So ging es beispielsweise beim Entwurf einer Landkarte östlicher Kunst („Eastern art map“) nicht um Parodie, sondern darum, in der Geschichte 50 Jahre zurückzugehen, um radikale nichtwestliche Positionen zu rekonstruieren. In einer Karte vereint würde diese einen Zugang zur Geschichte der anderen ermöglichen.
- Welchen Beitrag zur Neuschreibung von Kunst- und Kulturgeschichte leistet der Kunstmarkt?
- Das spricht wieder den Unterschied Ost/West, also einen politischen Moment, an. Was an den Untergrundkünstlern der achtziger Jahre interessant ist, ist, dass sie den strukturellen Aspekt betonen. Denn um die Funktionsweise des Kunstbetriebes und seine Veränderungen zu interpretieren, ist ein psychologisches Modell nicht ausreichend. Es geht nicht nur um den Verkauf von Kunstwerken, sondern auch um die Positionierung künstlerischer Produktionen in der Gesellschaft. So lag etwa bei der „documenta 10“ der Schwerpunkt auf dem Thema „Privatwohnungen“. Man wollte der Frage nachgehen, ob es Kunst nur für Institutionen gibt oder ob außerhalb der traditionellen Kunsteinrichtungen auch andere Räume existieren, die für die Kunstproduktion substanziell sind. Was passierte? Nur einige wenige Künstler aus Ex-Osteuropa wurden einbezogen. Das war ein Paradox, weil praktisch die gesamte SozArt sowie AptArt- und Untergrundbewegungen in sämtlichen Ostländern in Privatwohnungen entstanden.
- Wird so die Marke „Balkan“ verkauft?
- Ähnliches passierte auf der „documenta 11“ oder der Manifesta – die meisten dazu eingeladenen Künstler stammten aus Westeuropa, einige aus der Ukraine und keiner vom Balkan. Das ist so eine Art Bestrafung für die drei Balkan-Ausstellungen letztes Jahr, die alle in Österreich oder Deutschland stattgefunden haben. Wir haben den Balkan satt. Und wenn wir an sie denken, erinnern wir uns nur an ihre drei Kuratorenväter: Harald Szeemann, Peter Weibel und René Block. Diese drei Namen haften am Balkan.
- Für Sie sind das also keine zufälligen, sondern auch strukturell notwendige Phänomene?
- Genau, weil es sich hier um eine bereits bestehende Matrix der „kapitalistischen Ersten Welt“ handelt, die vom Kunstmarkt dominiert ist. Dieser ist sehr wichtig, da es um das Schreiben von Büchern geht, um kritische Arbeiten, das Kuratieren von Projekten … Und alle Beteiligten spielen dieser Maschine in die Hände. Was für eine wichtige Rolle diese spielt, bleibt jedoch oft im Verborgenen. Dabei ist sie es, die als „Trendsetter“ agiert, bestimmt, was in und out ist. In Wirklichkeit ist sie eine Zensurmaschine mit kannibalischen Zügen. Eine Maschine, die immer Grenzen setzt. Einige dieser Grenzen dürfen nicht überschritten werden – und das nicht etwa, weil sich Obszönes dahinter verbirgt, sondern weil es sich um kritische, die Funktionsweise der Maschine selbst hinterfragende Inhalte handelt. Natürlich müssen Künstler, die Teil der großen Familie geworden sind, in ihrer Kunst den Regeln folgen. Doch ich glaube auch, dass weisere Köpfe in der Kritikerszene Osteuropas gefunden werden könnten. Warum? Weil diese osteuropäische Welt von Ideologie und Politik hervorgebracht wurde. Denn der Blick von außen ist oft sehr viel klarer als der von innen.
- Ist das der Unterschied zu Ihrem slowenischen Philosophenkollegen Slavoj Žižek aus Ljubljana, den Sie in Ihrem Buch oft zitieren?
- Unsere Positionen sind sehr unterschiedlich. Žižek ist ein Genie wie Kant, Hegel, Marx, Rosa Luxemburg. Für mich ist allerdings unverständlich, wozu diese Schriften produziert werden, wenn sie dann doch nichts anderes als ein Hollywoodprodukt sein wollen – und nicht auf soziale, politische Veränderungen abzielen. Hier spitzt sich unsere unterschiedliche Herkunft zu. Der Untergrund ist für mich meine „Mutter“ und mein „Vater“ ist die Rock ’n’ Roll- und Punkbewegung von Ljubljana. Ich bin in der Schwulen- und Lesbenszene in Ljubljana aufgewachsen und so mit der theoretischen kritischen Macht der Untergrundbewegung eng verbunden. Obwohl ich ein Doktorat der Philosophie habe, werde ich eher von der Verschränkung von Theorie und aktivistischer Praxis geleitet. Theorie macht für mich ohne dieses praktische Moment des Engagements in einer konkreten Situation mit dem Versuch, Institutionen und künstlerische, kulturelle Praktiken zu ändern, keinen Sinn. Ich bin eine Verfechterin der Verknüpfung von Theorie, Politik und Kunst. Die einzige Position, die man in einer Welt der Ungleichheit einnehmen kann.
- Aus der kritischen Sicht des Underground: Worin liegt der Unterschied zwischen Ost und West?
- Der Osten ist ein schlecht funktionierender Körper, der Westen stellt den perfekten Körper dar. Doch der Vorteil des schlecht funktionierenden, nicht trendigen, prachtvollen Körpers ist, dass dieser in der Lage ist, die Position des perfekten Körpers zu verstehen. Dieser Körper ist eine viel fortschrittlichere Maschine, weil wir in unserem Bewusstsein beide Positionen integrieren können und somit flexibler als derjenige sind, der alles hat.
- Gilt dasselbe für die Kultur und für die Künstler?
- Das wäre eine Verallgemeinerung, die nicht möglich und kontextabhängig ist. Das Einzige, was zählt, ist das Konzept; das heißt, der Kontext ist immer einzubeziehen. Wir müssen Emanzipation zu denken versuchen, um eine bessere, andere Welt zu erschaffen, die solidarischer ist in Bezug auf diejenigen außerhalb der Ersten kapitalistischen Welt. Es geht um die unwahrscheinliche Welt, die jetzt nicht existiert, aber in der Zukunft hervorgebracht werden kann. Genau diese Unmöglichkeit kann über die Kunstpraxis exerziert werden.
erschienen im "Magazin für Kontakt d. Erste Bank Group", issue2
Selene Verlag - Magazin, Issue2 -