Aktuell *Ost Über Uns Archiv Impressum English




Von der Prostituierten zur ehrenwerten Dame

redaktionsbüro: Eduard Steiner
Michail Leontjew :
- Man schimpft Sie „westfeindlich“. Zu Recht, wie ich meine.
- Ich bin nicht antiamerikanisch oder antiwestlich. Die großen Mächte haben antagonistische Interessen. Die Mächte, die über die nötige Souveränität verfügen und über ihr Schicksal unabhängig entscheiden können. Solche gibt es wenige. Europa gehört nicht dazu, obwohl manche dies gerne so hätten. Europa ist ein Satellit der USA. Wäre es das nicht und würde es eine Kooperation mit Russland eingehen, könnte es zu einem Global Leader aufsteigen. Aber als Satellit der Amerikaner kann es für uns kein strategischer Partner sein. Sie können ja auch nicht mit dem Hund Ihres Nachbarn Vereinbarungen treffen. Mit Schröder und Chirac gab es eine Annäherung. Aber Europa hat unser weitgehendes Angebot einer Kooperation im Hinblick auf die Energiesicherheit nicht angenommen. Angela Merkel wurde hysterisch.
- Womit wir bei Russlands Image im Westen sind. Beginnen wir beim Einfachen: Sie waren während der Fußballeuropameisterschaft in Österreich. Ihre Nationalmannschaft hat Positives für das Image geleistet …
- Wir haben feststellen dürfen, dass wir im Fußballspiel nicht komplette Stümper sind. Aber von diesem Ereignis ausgehend sollte man nicht urteilen.
- Von welchen Ereignissen aus lässt sich ein Urteil treffen?
- Russland hat begonnen, großes internationales Interesse hervorzurufen. Schon zur Zeit der Perestrojka war die Russlandberichterstattung in den westlichen Medien in Mode. Danach war es en vogue, über das „neue Russland“ und seine Demokratie zu berichten, und später gehörte es zum guten Ton, über die Kriminalität, die Oligarchen und den demokratischen Verfall zu informieren. Langsam normalisiert sich das mediale Verhältnis. Derzeit fragen sich die Marketingstrategen: Wie soll man ein positives Image von Russland vermitteln, ohne wirklich zu recherchieren, was das Positive denn nun tatsächlich ist? Die wollen doch nur die fetten Budgets für ihren Schall und Rauch einkassieren, ohne die realen Inhalte substanziell herauszuarbeiten. Das ist Propaganda.
- Und wer macht diese Propaganda?
- Image bildet sich mithilfe von Medien heraus. Image existiert nicht objektiv. Es ist ein subjektives Produkt. Die Welt und wir selbst sind irritiert. Russlands Image war ursprünglich das eines Verlierers. Das Land hatte eine Katastrophe erlebt, die Leute konnten sich selbst nicht mehr mit dem System identifizieren. Man hatte nach dem Zerfall der Sowjetunion Liebe vom Westen erwartet und dann kamen drei Schläge: erstens der Jugoslawienkrieg. Er wurde als Affront gegen Russland aufgefasst. Zweitens der erste Tschetschenienkrieg, als wir als Staat vor den kriminellen Gruppierungen Tschetscheniens kapitulierten. Drittens der Rubel-Crash 1998. Aus diesen drei Erschütterungen erwuchs die Figur Putin, die das diffuse Image in eines des Erfolgs umwandelte.
- Soll das heißen, Russland ist besser als sein Ruf?
- Ja. Wir haben uns stark geändert. Die osteuropäischen Staaten haben überlegt, wem sie sich anbiedern sollen. Verständlich, dass sie in den Russlands nicht wollten, sondern jenen des Westens vorzogen. Jetzt aber ändert sich die Dynamik. Plötzlich wird unser Hinterteil dicker, perspektivenreicher, als man in Osteuropa dachte. Unsere PR-Agenturen arbeiten leider nicht in Kiew und Moldawien, wo sie meines Erachtens arbeiten sollten, sondern in Paris und New York.
- Um welches Image kann und soll es gehen?
- Stellen Sie sich das Image einer Frau vor, die sehr populär ist, weil sie ungemein leicht zu haben ist, und das einer Frau, die eine große Autorität besitzt, weil sie ehrenhaft und bestens beleumundet ist. Ich habe immer den Eindruck, dass wir ein Mittelding zwischen diesen beiden Images haben wollen. Was Europa von uns will, ist klar: das erstere Image, die Erreichbarkeit um niedrigen Preis. Aber erst wenn wir diesen Nimbus verloren haben, können wir Reputation für uns schaffen.
- Wann hatte Russland Ihres Erachtens das beste Image?
- Unter Gorbatschow. Man hatte Achtung vor uns. In Russland sagte man: „Gorbatschow ist der beste Deutsche.“ Wie diese Ära für unser Land letztlich ausgegangen ist, haben wir noch deutlich in Erinnerung. Aber dieses bittere Ende hat unserem guten Ruf eher zugearbeitet. Die Welt sah, dass Russland die Fähigkeit besitzt, aus den Ruinen wiederaufzuerstehen. Zwischen 1991 und 1998 war Russland innerhalb der Weltpolitik nur marginal von Interesse. Unser Außenministerium schien vielmehr ein Teil des US-State-Departements zu sein. Heute haben wir unsere Souveränität wiedererlangt, aber sie ist stetigen Angriffen ausgesetzt – kulturell, aber auch militärstrategisch. Siehe Atomwaffen.
- Stimmen Sie zu, dass Russlands Image im Westen nicht besonders ist?
- Natürlich. Aber warum? Das Land befindet sich in einer Zeit des Übergangs vom Image der Prostituierten zum Image der ehrenhaften Dame. Es verwandelt sich gerade in einen souveränen Staat. Die Welt fragt sich, weshalb sich Russland denn nun auf einmal so weit hinauslehnt, kapriziös wird und aufbegehrt. Nun gebärdet sie sich wie eine ehrenhafte Dame. Das erzeugt Frustration. Präsident Dmitri Medwedjew versucht, sich teilweise wie früher billig anzubieten. Das gefällt mir nicht.
- Warum so kompliziert? Lassen Sie sich doch an dem Fortschritt der Demokratie im Land messen.
- Liberale Demokratie ist doch ein sinnentleerter Ausdruck. Die beiden Begriffe „liberal“ und „demokratisch“ sind eine Tautologie, sie widersprechen einander. Demokratie ist in ihrer Grundbedeutung die Herrschaft des Volkes. Liberalismus aber ist das System der Herrschaft der Elite. Liberale Demokratie ist ein entstelltes System, das mit weichen, modernen Mechanismen im Grunde nur die Herrschaft der Elite gewährleistet. Eine Illusion von Demokratie.
- Hat Russland eine Alternative?
- Ich denke, Russland braucht kein System zu errichten, dessen Wesenskern auf Imitation und Simulation beruht. Niemand hat das Recht, Russland vorzuschreiben, wie sein politisches System aussieht. Ihr könnt uns mal mit eurer Einmischung. Wir werden unsere politische Struktur nicht mit euch diskutieren. Wenn wir was wissen wollen, werden wir schon fragen. Wir haben auch nicht gebeten, ein Wahlmonitoring durchzuführen. Die moderne westliche Zivilisation befindet sich doch selbst in einer sehr ernsthaften Krise. Das Wertesystem funktioniert nicht mehr. In den USA sind demokratische Prozesse längst außer Kraft gesetzt worden. Nehmen Sie die kommenden Präsidentschaftswahlen in den USA: Diskutiert da irgendjemand die kommende Wirtschaftskrise, obwohl es doch im Grunde kein wichtigeres Thema für die USA geben kann? Wenn ein Kandidat zugeben würde, dass auf die Amerikaner in Zukunft Blut, Schweiß und Tränen zukommen, würde man ihn ins Narrenhaus einliefern. Das System ist nicht imstande, sich selbst zu analysieren, zu kritisieren, und will auch nicht mit dem Volk reden. Es tut aber so.
- Sie meinen, dass ihr in Russland ehrlicher seid und gar nicht erst so tut, als würde die Staatsmacht mit dem Volk reden?
- Nein. Wir sind ehrlicher aufgrund unserer Unterentwicklung. In Wirklichkeit haben wir nämlich keine neuen politischen Ideen. Mir gefällt ja eben nicht, dass Russland diese pseudodemokratischen Gesellschaftsstrukturen kopiert. Es ist nicht imstande, was Neues zu erfinden. Stellen Sie sich einen Menschen vor, der ein Ticket für die „Titanic“ kauft, nachdem das Telegramm eingetroffen ist, dass die „Titanic“ sinkt. Wir sind nicht ehrlicher, wir sind dümmer.
- In welche Richtung sollten die neuen Ideen gehen?
- Das ist sehr schwer. Das ist keine banale Frage. Darüber muss nachgedacht werden. Es stellt sich die Frage, wie man ein ökonomisches System schaffen kann, das nicht auf Finanzparasitismus gegründet ist. Wir sind Christen: Die Christen halten Wucher für eine Todsünde. Die Grundlage der Volkswirtschaften des modernen Kapitalismus bildet der Wucher. In Russland machen wir dabei genauso mit wie überall auf der Welt, aber für uns ist das nicht wie im Westen der Weisheit letzter Schluss, wir hinterfragen es aus historischen Gründen immerhin noch.
- Beunruhigt Sie, dass Russlands Image schlecht ist?
- Überhaupt nicht, im Gegenteil, es freut mich. Russland ist halt nun einmal keine billige Kolonialdienerin des Westens. Nehmen Sie Michail Chodorkowski: Seine Firma Yukos, die er gratis erhalten hatte, wollte er unauffällig den US-Amerikanern verkaufen und so Russland der Möglichkeit berauben, eine potente Energiestrategie zu entwickeln. Er glaubte nicht an unsere staatliche Souveränität, sondern allein an transnationale Korporationen. Das war seine Weltanschauung. Als Bürger hatte er ein Recht auf diese Meinung. Aber er war hochgefährlich für Russland. Er beherrschte 50 Prozent der Kapitalisierung des russischen Marktes und versammelte Leute um sich, die weitere 45 Prozent dieser Kapitalisierung in der Hand hatten. Er verfügte also über uneingeschränkte Möglichkeiten – finanziell, medial, kriminell – um auf den Staat einzuwirken.
- Woher kommt der unbedingte Wunsch, Großmacht zu sein?
- Russland kann andernfalls nicht bestehen. Leider. Wenn Russland zerfiele, würde das ziemlich sicher in einer großen Katastrophe enden. Geopolitisch, militärisch. Wir sind auf die Ressourcen auf diesem Territorium angewiesen und sie garantieren uns den Status der Großmacht. Es kann eine gebildete Großmacht sein, ein Rechtsstaat, nicht auf Expansion bedacht. Aber eben eine Großmacht.
Der 49-jährige Journalist und Sowjetdissident Michail Leontjew moderiert seit 1999 die politische Kommentarsendung „Odnako“ (zu Deutsch etwa „Jedoch“) beim staatlichen Fernsehsender „Erster Kanal“. Zuletzt produzierte er eine mehrteilige politische Analyseserie mit dem Namen „The Great Game“, in der er das Selbstverständnis von Großmächten und deren Beziehung zu Russland thematisiert. Für seine antiwestlichen, Staaten diffamierenden Aussagen wurde er etwa 2003 in Lettland zur Persona non grata erklärt und 2006 an der Einreise in die Ukraine gehindert. Vor seinem Wechsel zum „Ersten Kanal“ arbeitete der studierte Ökonom in den neunziger Jahren in führenden Positionen bei den liberalen Zeitungen „Kommersant“, „Nesawissimaja Gaseta“ und „Segodnja“ sowie beim TV-Sender TVS.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa, September 2008
Report online -