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Der Italiener Stefano Boeri ist einer der einflussreichsten Architekten seines Landes und Global Player. Als Chefredakteur von Domus, freier Autor für das Wirtschaftsmagazin „Il Sole 24 Ore“, Professor in Venedig, mit eigenem Architekturbüro und dem als internationales Netzwerk organisierten Forschungslabor „Mulitplicity“ managt er einen der größten „Thinktanks“ in Europa. Mit Manuela Hötzl sprach er über seine vielen Rollen, die geringe Komplexität von Architektur und die utopische Dimension von Architektur.

Utopia als individuelle Dimension

im Gespräch mit Stefano Boeri

redaktionsbüro: Manuela Hötzl
Stefano Boeri:
- Sie haben das Magazin Domus seit Ihrem Antritt als Chefredakteur radikal verändert und sind von einer Objektdarstellung abgewichen. Schon das erste Cover (Jänner 2004) verdeutlichte dies mit einem Foto des Triennale-Aufruhrs 1968, der zur Schließung bzw. Zerstörung der Ausstellung „Large Numbers“ geführt hat. Wollen Sie mit der Wahl dieses Fotos wieder an die Tradition von Architektur in Verbindung mit Gesellschaft und Politik anknüpfen, die Teil dieser Thematik und letzten Endes auch Grund für die Aufregung war?
- Ich habe dieses Bild verwendet, weil es natürlich in einer bestimmten Art und Weise eine Referenz zur Geschichte der Architektur Italiens darstellt. Giancarlo de Carlo, der Kurator der Ausstellung, war einer der wichtigsten und interessantesten Denker seiner Zeit. Er war damals in der Lage, über seine eigene Disziplin der Architektur hinauszudenken, was er auch mit der Ausstellung „Large Numbers“ zeigte. Er stellte vor allem in Zusammenhang mit einer Konsumgesellschaft oder einer Gesellschaft des Massenverhaltens die Frage: Können wir an dem Einzelnen, am Individuellen anknüpfen, können wir eine Gesellschaft mit vielen Individuen managen? Interessant war, dass de Carlo eine Entwicklung hinterfragte, damit eine seriöse Beobachtung der Umgebung beginnen und sich von einem Formalismus entfernen kann.
- Was passierte mit dieser Debatte, die de Michelis als „Interpretation der Architektur als ,Sozialkunst’” beschrieb. Endete sie mit der Zerstörung der Ausstellung?
- Absolut. Es war der Bruch mit der Geschichte. Da bin ich sicher. Ein Großteil der Architekten dachte damals, dass die Ausstellung zu intellektuell und ein wenig zu „radikal-chic“ war. Allzu reale Probleme wurden aufgegriffen. Und das ist wirklich schade, weil wir damit eine Kontinuität in der Diskussion über Architektur und deren Produktionsbedingungen verloren haben. Danach gingen Aldo Rossi oder Vittorio Gregotti wieder den formalistischeren Weg, und de Carlo wurde unmittelbar marginalisiert.
- Es wird sehr viel über die Rolle des Architekten gesprochen; Sehen Sie diese als gesellschaftlich relevant?
- Meine Idee von Architektur ist, um es einfach zu definieren, dass sie heutzutage fähig sein muss, zu beobachten und mit der physischen Umgebung umzugehen. Physisch-metaphorisch ist der beste Zugang, den wir zur Gesellschaft haben können. Im Hinblick auf die Kompetenz des Architekten ist der wichtigste Punkt der sichere Umgang mit dem Material, dem Raum etc. Aber manchmal wäre es der erfolgreichere Weg, wenn man den Zugang über das Verständnis dessen, was rund um uns in der Gesellschaft passiert, finden würde. Also eine gewisse sozial-gesellschaftliche Verantwortung – und dabei nicht nur zu beschreiben, sondern das Thema der Architektur als ein etwas Weitreichendes zu betrachten.
- Trotzdem sehen Sie Gebäude oder die Architektur nicht als etwas Elitäres, das ausschließlich für sich selbst spricht. Also nicht exklusiv, sondern inklusiv?
- Ja, man kann davon ausgehen, dass immer eine Beziehung zwischen Exklusivität und Eingeschlossenheit existiert. Es ist wichtig, sich das zu vergegenwärtigen, wenn man ein Magazin wie Domus macht. Man ist dort immer auf eine Art exklusiv, mit den Bildern, den Autoren, den Projekten. Und alles hat mit einer Einmaligkeit zu tun. Gleichzeitig aber, wenn man im Prozess der Gestaltung nicht auch einen inklusiven Aspekt bedenkt, vergisst man die Faszination vieler Ideen, die außerhalb der Konstruktion liegen. Eine Möglichkeit ist also, die Zukunft offen zu sehen, in allem, den Materialien wie Konzepten; Die andere ist, zu selektieren, auszuschließen oder nur eine einzig mögliche räumlich-physische Präsenz zu sehen und zu zeigen. Als Redakteur befindet man sich immer in diesem Widerspruch.
- Sie sprechen immer von „territories”, nie von Städten oder Ländern etc. – so ist ein Schiff für Sie ebenso ein Territorium, wie das Mittelmeer („solid sea”). Lässt sich diese Programmatik auf den „urban Fact“ (ein kleines Teilelement mit größerer Wirkung; Anmerkung der Redaktion) Aldo Rossis zurückführen?
- Wenn ich den Inhalt beschreiben muss, der fähig ist, verschiedene Erscheinungsformen anzunehmen, dann spreche ich immer von „device“. Und „device“ kann, wie im Verständnis Aldo Rossis, etwas Bauliches sein, muss aber nicht. Territorien zu beobachten, ist immer ein Versuch, die physikalische Präsenz von „devices“ zu erkennen. In Russland kommen diese Formen aus dem Strukturalismus, in Frankreich aus den mechanisch-technischen Studien. Es gibt immer verschiedene Ursprünge. Wir beobachten Territorien immer von den verschiedenen Standpunkten der „devices“. Dabei können wir viele Veränderungen erkennen. Und alles, was in den letzten Jahren in diesem Zusammenhang neu produziert wurde, kommt nicht aus der Architektur. Das sehen wir ganz klar. Aber es ist dialektisch. „Device“ im urbanen Sinne hat zum Beispiel immer mit sozialer Energie zu tun.
- Was kann man daraus auf die Architektur übertragen – im Sinne von „learning from territories“?
- Das Folgende erklärt das vielleicht: Als wir als Multiplicity-Gruppe zu einer Ausstellung in Berlin zum Thema „Grenzen“ geladen wurden, haben wir uns entschieden, eine Arbeit zu zeigen, die sich mit Grenzen als „devices“ auseinandersetzt. Also Grenze nicht als dimensioniertes Merkmal, nicht als Linie, sondern die Grenze als Möglichkeit einer Veränderung. Grenzen sind ein Teil der physischen Umwelt, ein physisches Element oder auch Event, das immer mit dem sozialen Verhalten in Zusammenhang steht. Grenzen bedingen und lassen soziale Reaktionen entstehen. Diese Komplexität von Reaktion und Widerspruch zu decodieren, ist für uns interessant. Grenzen sind in diesem Kontext eine gute Metapher für unsere Gesellschaft, weil wir Territorien als Felder betrachten, die verschiedene „devices“ erzeugen. So lernt man, viel zu verstehen, weil „device“ immer eine Repräsentation der Verbindung zwischen sozialem Leben, ökonomischen Entwicklungen und physischer Umwelt darstellt. Für die Architektur stellt dabei die physische Erscheinung den Schlüssel zur Gesellschaft dar. Aldo Rossi beschäftigte sich dagegen viel mehr mit den Kapazitäten der Architektur, die es möglich machen, größere Entwicklungen zu initiieren.
- Die meisten Arbeiten von Multiplicity bewegen sich im mediterranen Raum. Auch Domus hat eine Ausgabe der Situation Kroatiens gewidmet. Ist die Schnelligkeit, mit der dort eine Entwicklung vonstatten geht, ein besonders gutes „Forschungsobjekt“? Oder welche Bedeutung hat das für Sie?
- In einer gewissen Weise geht dort alles sehr schnell, das stimmt. Man versucht, den Bruch in der Geschichte, die verlorenen 15 Jahre möglichst schnell aufzuholen. Damit ist die entstandene Energie, die ohne Zweifel in besonderem Maße existiert, verknüpft. Aber das stellt auch eine Gefahr für diese Länder und Städte wie Zagreb oder Ljubljana dar. Und zwar deswegen, weil man seine Erinnerung oder Geschichte nicht so einfach auslöschen sollte – das betrifft auch die urbane Geschichte. Die kommunistische Zeit war unglaublich aggressiv, gewiss aber auch eine globale Energie, die diese Länder in eine Isolation katapultiert hat. Aber es wäre falsch, jetzt all das zu vergessen. Wir haben versucht, diese Erinnerung wieder etwas zu wecken und zu lernen, was eigentlich passiert ist. Denn wir sollten alle Traditionalisten bleiben. Das ist unsere einzige Möglichkeit, mit der Vergangenheit umzugehen.
- Sie bauen mit Boeri Studio ihr erstes großes Gebäude in Marseille. Wie gehen Sie nach all den Jahren der Forschung damit um. Ist man da gehemmt?
- Wir fangen nicht ganz von vorne an, aber es stimmt, das wird unser erstes großes Gebäude. Die Forschung ist sehr wichtig für mich und gibt mir eine Vielzahl von Anregungen, die ich als praktizierender Architekt nicht hätte. Aber ich denke auch, dass kein direkter Zusammenhang zwischen Forschung und Design herzustellen ist. Ich habe nie gedacht, dass ich als Architekt all mein Wissen jetzt in einem Gebäude demonstrieren muss. Wenn ich all die Jahre der Forschung mit verschiedenen Themen verschmelzen wollte, würde ich Monster schaffen. Also sehe ich es als Gefahr, alles, was in meinem Kopf ist, in eine Form zu bringen. Ein Alptraum. Design ist für mich etwas Autonomes und das Beste, um die Verbindung zu erhalten, ist, sie zu trennen. Da sollten wir sehr vorsichtig sein. Wir können mit Forschung einen Prozess des Lernens erzeugen, aber niemals Formen schaffen.
- Haben Sie für sich eine Utopie?
- Utopie als Thema in der Architektur existiert für mich nur symbolisch: in den Bildern, die wir produzieren oder unter einem ästhetischen Aspekt. In diesem Sinne ist Utopie ein Teil unserer Welt. Wenn man aber Utopie als kollektive Produktion sehen möchte, ist das eine andere Geschichte und war und ist immer ein Desaster. Für mich persönlich ist das eine individuelle Dimension und darin besteht unsere Individualität oder Kapazität, kreativ zu sein.
- Steht dafür „personal/individual“, eines der letzten Covers von Domus?
- Besser noch die allerletzte Ausgabe. Die Geschichte hinter dem Bildes ist folgende: Ein junger ungarischer Architekt hat in einem Dorf in der Nähe von Budapest einen neuen Typ von Beton entwickelt, der transparent ausgeführt werden kann. Wir besuchten ihn und machten ein Interview, weil wir es zuerst nicht glauben konnten. Dieser Architekt ist in einem Dorf aufgewachsen, in dem es eine kleine Betonfabrik gibt, die Teil seiner Geschichte war. Als er eines Tages in Frankfurt Fieberglas im Einsatz sah, hat er eins und eins zusammengezählt und einen Prototyp entwickelt. Das ist für mich eine andere Art, Utopie zu erzeugen – nicht nur für die Architektur, wo es mit diesem Material plötzlich möglich ist, Beton transparent auszuführen, sondern als individuelles Ziel: um dem Leben eine Bedeutung zu geben. Die eigene Biografie ist immer eine essenzielle Komponente. Und die Karriere von Architekten kann sehr viel sein, wenn wir die utopische Dimension immer mitbedenken. Das ist sehr wichtig für uns alle.
- Sie haben ein weites Betätigungsfeld, sind Professor, Redakteur, Forscher, Architekt...
- Um ehrlich zu sein, gibt es für mich nicht so viele Unterschiede in all dem, was ich tue. Ich betreibe Forschung und Design. Und Forschung findet an der Universität, bei Domus oder mit dem Netzwerk Multiplicity statt, und in meinem Architekturbüro entwerfe ich. Das ist alles. Also, was ich mache, ist schreiben, forschen und entwerfen.
- Na ja, das ist doch einiges...
- Nein, ist es nicht. Ich denke, wir alle sollten das machen. Und wir alle könnten es machen. Auch weil die Architektur trotz allem eigentlich sehr einfach und überhaupt nicht komplex ist. Wenn wir dagegen glauben, nur irgendwelche formalen Ergebnisse präsentieren zu müssen, ist das dumm und gefährlich und lässt die Architektur zu etwas Marginalem werden.
Stefano Boeri

1956 geboren in Mailand
Chefredakteur von Domus, Mailand
Mitinhaber des Architekturbüros Boeri Studio, Mailand
Gründer von „Multiplicity“, einem Forschungslabor zur Untersuchung regionaler und urbaner Entwicklungsstrategien
Professor in Genua und Venedig
Freier Autor der Wirtschaftszeitung „Il Sole 24“>7b>
erschienen in Architektur & Bauforum Nr.22/04