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Florian Klenk im Gespräch mit Christoph Badelt, Rektor der Wirtschaftsuniversität Wien über die drohenden Gefahren der EU-Erweiterungen.

„Die Armut wäre ohne EU noch viel, viel größer!“

Angst und Euphorie,Provenzialismus und Ost-Erweiterung in der EU

redaktionsbüro: Florian Klenk
Christoph Badelt:
- Herr Professor Badelt, nach der Erweiterungseuphorie droht die Ernüchterung. Kritiker weisen darauf hin, dass die Nachteile der Erweiterung unterschätzt wurden. Während die städtischen Eliten schon bald im Wohlstand schwelgen, würde ein Aufstieg der ländlichen Regionen noch Jahrzehnte dauern. Werden die Segnungen der EU-Erweiterung wirtschaftlich überschätzt?
- Vielleicht klingt es paradox, wenn ich das als Wirtschaftsexperte sage, aber die Erweiterung ist weniger ein wirtschaftliches denn ein politisch bedeutsames Phänomen. Wirklich wichtig sind das Zusammenwachsen auf politischer Ebene und die Sicherung demokratischer Strukturen. Wir haben das schon bei der Süderweiterung gesehen. Ich glaube, dass wir im politischen Bereich sehr rasch vorwärts kommen werden. Breite Schichten in den Beitrittsländern haben große Hoffnungen in den Beitritt gesetzt und wollen nun auch nicht enttäuscht werden.
- Wie groß ist die Gefahr, dass dies dennoch geschieht?
- Das ist schwer abzuschätzen. Aber eines ist gewiss: Der wirtschaftliche Anpassungsprozess wird in den Beitrittsländern mit großen Schmerzen verbunden sein. Vor allem für die Bevölkerung in unproduktiven Betrieben und in der Landwirtschaft. Es wird eine der Hauptaufgaben der EU sein, für soziale Abfederung zu sorgen.
- Wenn wir Richtung Osten blicken, sehen wir zwei Phänomene: Einerseits einen rasenden Steuerwettbewerb – Stichwort: 19 Prozent Körperschaftssteuer in der Slowakei – andererseits das Verlangen nach Subventionen aus dem Westen. Deutschlands Kanzler Gerhard Schröder grummelt schon, dass Deutschland nicht die Konkurrenz gegen sich selbst finanzieren will. Bei uns fordert die Industrie bereits Arbeit am Sonntag und längere Arbeitszeiten. Politisches Säbelrasseln oder berechtigte Sorge?
- Wir müssen differenzieren. Wenn es um den Wettbewerb der politischen Systeme geht – Schlagwort Niedrigsteuerkonkurrenz – schneidet Schröder tatsächlich ein heißes Thema an. Es ist paradox, dass wir Subventionen an Länder gewähren, die uns dann in einem Steuerdumpingsystem unfaire Konkurrenz machen.
- Ein Rezept dagegen?
- Auf politischer Ebene müsste sich das schon verhindern lassen. Man müsste auch die rechtlichen Möglichkeiten prüfen. Aber kommen wir zurück zur Konkurrenz der privaten Wirtschaftssysteme: Ich bin der Meinung, dass in der EU-Erweiterung sich im Kleinen das abzeichnet, was wir jenseits der Grenzen der neuen 25er-EU in noch viel stärkerem Ausmaß erleben werden. Wir baden die Folgen weltweiter Ungleichheiten aus. Wir können uns nicht einbilden, dass wir ein hohes Beschäftigungsniveau, hohe soziale Standards und die günstigen Preise einer Produktion einheimsen können, die zu Niedriglohnbedingungen stattfinden.
- Also: mehr arbeiten und weniger soziale Rechte?
- So ist es. Wir kaufen die Billigprodukte zu relativ günstigen Preisen ein. Diese Preise können nur deshalb so niedrig sein, weil es trotz der Gewinne der Produzenten noch immer niedrigere Kosten der Arbeitskräfte gibt und weil so schlechte Sozialstandards vorhanden sind. Zu glauben, dass wir unseren hohen Sozialstandard, unseren hohen Beschäftigungsstand und diese günstigen Preise und damit unser Wohlstandsniveau halten können, ist schlichtweg naiv. Das ist eines der Grundprobleme der modernen Weltwirtschaft.
- Kritiker würden einwenden, dass die Wettbewerbsfähigkeit nicht nur durch das längere Arbeiten erfolgt, sondern vor allem auch durch Technologie und Forschung. Hat sich Österreich genügend vorbereitet? Schon ein Blick auf die Verkehrswege stimmt bedenklich.
- Die Verkehrsverbindungen sind tatsächlich miserabel. Doch die Präsenz österreichischer Firmen in den Erweiterungsländern ist bestens. Damit meine ich nicht nur die OMV, sondern z. B. auch Banken, die Versicherungen und die Bauindustrie. Da hat sich die Privatwirtschaft gut vorbereitet. Wenn heute jemand sagt, dass er „in den Osten“ geht, ist das schon wieder abgeschmackt. Da müssen sie jenseits der EU 25 gehen.
- Haben Sie den Eindruck, dass die politischen Eliten weniger im Osten angekommen sind als die Wirtschaft? Die heimische Politik gaukelt uns noch immer vor, dass der kleine Nationalstaat das Zentrum der Macht sei.
- Das machen nur bestimmte Gruppierungen in diesem Land. Doch ich halte es für eine dramatische Unsitte der Politik, auf der einen Seite an der Osterweiterung zu arbeiten, andererseits alles Übel auf sie oder überhaupt auf die EU zu schieben. Das ist ein extrem gefährliches und kurzfristiges Denken.
- Warum herrscht es noch vor? Bedeutet die EU etwas anderes für uns? Sind wir weniger mit ihren Werten verbunden?
- Das ist die Versuchung eines kurzfristigen Populismus, der auch mit Halbwahrheiten arbeitet und unpopuläre Entscheidungen nach Brüssel und Strassburg schiebt. Ein Beispiel: Als es um die Nominierung der EU-Kommission ging, haben sämtliche Politiker die Ernennung eines österreichischen EU-Kommissars ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Vertretung der Interessen Österreichs gesehen. Das ist bitte eine sträfliche Verzerrung der Funktionen eines EU-Kommissars!

Auch Agrar-Kommissar Franz Fischler wurde ja als Vaterlandsverräter tituliert. Wir orten einen gewissen Provinzialismus, den es offensichtlich in der Wirtschaft nicht gibt. Es scheint schon so zu sein. Das hören sie immer wieder. Die Österreicher sind in Brüssel nicht gut angeschrieben, weil sie ein kurzfristiges Interessendenken pflegen.
- Zurück zur europäischen Sozialpolitik: Osteuropäische Politologen vergleichen die Lage bereits mit den dreißiger Jahren. Wir erleben auch hier in Wien ein Anwachsen der Armut aus dem Osten. Auch bei uns sind die Gefängnisse voll mit Menschen aus armen östlichen Regionen. Wie soll man dieses Problem in den Griff bekommen?
- Ich teile diese Prognosen. Doch diese Armut wäre ohne EU noch viel, viel größer. Es ist eine Armut, die aus der wirtschaftlichen Unterentwicklung dieser Länder herrührt. Hier wurde ja jahrzehntelang ineffizient gewirtschaftet. Ich glaube, dass die Erweiterung das Allerbeste ist. Durch den Lastenausgleich kann man zumindest für diese Länder etwas tun. Man kann ihnen sowohl durch Sozialprogramme als auch durch wirtschaftliche Förderungen Anreize geben.
- FPÖ und Gewerkschaften warnen schon heute vor dem Fall der Beschränkungen von Arbeitnehmerfreizügigkeit. Dies führe zu einer Flut von billigen Arbeitskräften. Gleichzeitig wandern Betriebe Richtung Osten ab. Grund zur Sorge?
- Ich halte die Befürchtungen für übertrieben. Aber die Gefahr ist natürlich nicht zu leugnen. Doch Arbeitsmigration einerseits und die Übersiedlung der Arbeitsplätze in eine Gegend, wo es billiger ist, andererseits, gibt es auch schon heute. Damit entsteht natürlich der Drang zum Lohndumping und zur Verschlechterung der sozialen Bedingungen. Das kann man nicht leugnen. Das wird durch die EU auch verschärft werden. Doch bei der Süderweiterung hat es ebenfalls entsprechende Prognosen gegeben und die Arbeitskräfte waren viel weniger mobil, als das manche weismachen wollten. Es bleiben ja sprachliche, kulturelle Barrieren. Die großen Massen werden nicht auswandern.
- Nun ist auch die Versuchung groß, dass arbeitsrechtliche Debatten geführt werden, die die Gewerkschaften schon längst ausgestanden glaubten. In Deutschland wird in den Daimler-Werken schon wieder mehr gearbeitet. Nützt die Industrie die Gunst der Stunde, um sich auf Kosten der Arbeitnehmer zu bereichern?
- Jetzt kommen wir in die österreichische Wirtschaftspolitik. Natürlich wird die Gunst der Stunde genützt. Aber die Arbeitskosten spielen schon auch eine Rolle. Lassen sie mich jedoch eines festhalten: Die großen sozialen Unterschiede gibt es heute vor allem zwischen Arbeitnehmern mit geregelten Arbeitsverhältnissen und atypisch Beschäftigten oder Arbeitslosen. Sozialpolitisch wäre es wesentlich besser, den klassischen Arbeitnehmer schlechter zu stellen, um die wirklich Benachteiligten zu unterstützen.
- Zurück in den Osten: Wenn man mit Osteuropäern spricht, dann haben viele auch Angst, dass österreichische Unternehmen die Wirtschaft aufkaufen, die Gewinne abziehen, die Stellen abbauen. Ist das eine berechtigte Sorge?
- Das ist der Prozess marktwirtschaftlicher Ordnungen. Wenn die OMV die rumänische Raffinerie kauft, wird sie natürlich Personal abbauen müssen, um die Produktivität zu steigern. Andererseits wird es in Rumänien auch keinen Wohlstand geben können, bevor man nicht die Produktivität hinauffährt. Das nennt das Lehrbuch dann die „Anpassungskrisen eines kapitalistischen Systems“.
- Stichwort Anpassungskrise: In Deutschland stöhnt das Volk über die Reformen des Arbeitsmarktes. Vor allem die deutsche Wiedervereinigung ist noch lange nicht verdaut. Altkanzler Helmut Schmidt, ein Sozialdemokrat, moniert, dass es misslungen ist, in Ostdeutschland einen Mittelstand aufzubauen. Das meiste Geld gehe an Rentner und Arbeitslose. Droht dieses Schicksal auch in Europa?
- Da traue ich mir keine Prognose zu. Die Deutschen wollten halt auch ein Wahnsinnstempo vorlegen.
Das will letztlich auch die EU. Wir müssen aber kurz innehalten. Wie lange waren diese Länder unproduktive Planwirtschaften? Rund vierzig Jahre. So schnell ist das nicht aufzuholen. Das ist ein langfristiger Prozess.
- Keynes sagt: Auf lange Sicht sind wir alle tot. Werden wir richtigen Wohlstand im Osten noch erleben? Wann wird es im ostslowakischen Košice ähnlichen Reichtum geben wie in St. Pölten?
- Aus dem Bauch heraus würde ich sagen: Unter 20 Jahren werden die Unterschiede immer noch deutlich spürbar sein.
- Kommen wir zur Wissenschaft. Wie haben sich österreichische Unis auf die Erweiterung vorbereitet?
- Wir haben hunderte Studierende aus Bulgarien. Wir haben Partnerunis, spezifische Programme, Sommerunis, eigene Kompetenzfelder für die Ausbildung von Osteuropa-Managern, wir haben Ostsprachen, die man bei uns lernen kann, einen Forschungsschwerpunkt für Osteuropa. Wir haben an der Wirtschaftsuniversität einen Ausländeranteil von 20 Prozent.
- Welchen Eindruck haben Sie von diesen Studenten aus dem Osten?
- Ich habe nur top-engagierte Leute kennen gelernt. Was da an Kraft und Wille vorhanden ist, finde ich schon beeindruckend. Das sind natürlich die Leute, die es über die Grenze schaffen. Nun plagt uns eine Sorge: Die Studierenden aus den Beitrittsländern müssen jetzt Studiengebühren leisten. Das ist ein großes Thema. Denn wenn die Ausländer nichts bezahlen, entstehen bei uns unhaltbare budgetäre Lücken. Wir können auf diese Gebühren daher nicht verzichten. Ich hoffe nur, dass das die Zahlen der Ausländer nicht nach unten treibt.
- Gehen österreichische Studenten in den Osten?
- Wer in den Osten geht, hat ausgezeichnete Chancen. Doch die Studierenden wenden sich nach wie vor stark nach Amerika. Sie können keine Professur haben, wenn sie nicht in Amerika waren.
- Herzlichen Dank für das Gespräch!
-
Dr. Christoph Badelt ist seit März 2002 Rektor der Wirtschaftsuniversität Wien.
Als Volkswirtschaftler hat Christoph Badelt seine Hauptarbeitsgebiete in den Bereichen: Nonprofit-Organisationen, Sozialpolitik, Altenpflege, Familienpolitik, Behindertenpolitik, Sozialmanagement und Wohlfahrtsstaat.

Dr. Florian Klenk ist Redakteur des Wiener Stadtmagazins „Falter“. 2002 erhielt er den Claus-Gatterer-Preis 2002.


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa, September 2004
Link: Wirtschaftsuniversität Wien - Link: REPORT online -