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„Die meisten Lebensmittel kosten in Serbien mehr als in Westeuropa“

redaktionsbüro: Thomas Schmidinger
Miljenko Dereta:
- Belgrad hat einige sehr gute Restaurants.
- Wir haben mittlerweile ganz ausgezeichnete Lokale. Das wissen außerhalb des Landes nur wenige, aber ich kann Serbien in kulinarischer Hinsicht sehr empfehlen.

- Vermutlich können sich aber viele Serben diese guten Restaurants nicht leisten.
- Diese guten Restaurants sind natürlich nur etwas für die Ober- und Mittelschicht. Die Verlierer hinsichtlich der wirtschaftlichen Reformen haben kein Geld, dort essen zu gehen.
- Hat sich die soziale Situation in Serbien seit dem Sturz der Milošević-Regierung vor acht Jahren nicht verbessert? Wie haben sich die politischen Veränderungen seit 2000 auf die Lebenssituation der Bevölkerung ausgewirkt?
- Es gibt heute viel größere soziale Unterschiede als unter Milošević. Damals waren – mit Ausnahme einer kleinen Gruppe um Milošević selbst – fast alle gleich arm. In den vergangenen Jahren ist jedoch eine Art Mittelklasse entstanden, die größtenteils für die Demokraten und für Europa gestimmt hat. Denn sie hat vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert und benötigt nun politische und wirtschaftliche Stabilität.
Wer für wen die Stimme abgegeben hat, zeichnet sich sogar im Stadtbild Belgrads ab, will man einem Taxifahrer Glauben schenken, mit dem ich vor Kurzem ein interessantes Gespräch führte. Er erzählte mir, dass alle seine Kollegen, die neue Autos besitzen, für die Demokraten gestimmt haben. Die in den alten Autos hingegen haben die „Serbische Radikale Partei“ gewählt. Die Radikalen haben in Serbien fast ausschließlich auf eine sozialdemagogische Mobilisierung gesetzt, die die Verlierer der derzeitigen Situation angesprochen hatte.
- Wer ist denn nun arm in Serbien?
- Einerseits die Pensionisten – die mit extrem niedrigen Pensionen auskommen müssen – und andererseits jugendliche Arbeitslose. Die ganz Jungen und die ganz Alten weisen wohl den größten Anteil an Armen auf. Aber es gibt nicht nur eine Spaltung der Gesellschaft in Alters-, sondern auch in Berufsgruppen. Sie müssen sich vorstellen, dass es in Serbien heute so gut wie keinerlei Produktion gibt. Die gesamte Industrie wurde stillgelegt. Bei uns verdienen eigentlich nur noch Dienstleister und Intellektuelle. Die gesamte Arbeiterklasse ist arbeitslos geworden. Zusätzlich gibt es ein immer stärker auseinanderklaffendes Stadt-Land-Gefälle. Die Landbevölkerung verfügt eigentlich über keine Einkommensmöglichkeiten mehr und ist Selbstversorger.
- Auf meinen Reisen nach Serbien hatte ich immer wieder den Eindruck, dass noch ein ethnisches Gefälle hinzukommt. Die Roma dürften die allerärmste Bevölkerungsgruppe darstellen.
- Ich habe die Roma nur deshalb nicht gesondert erwähnt, da sie auch überall sonst zu den Ärmsten gehören. Das ist in Ungarn, Rumänien, Mazedonien oder Bulgarien nicht anders und damit kein serbisches Spezifikum. Aber es stimmt, sie sind sicher die Ärmsten der Armen. Wir haben nun aber gewisse Hoffnungen, dass sich etwas verbessern könnte. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen arbeiten derzeit intensiv daran, dass zumindest die legalen Hindernisse für die Roma aus dem Weg geräumt werden. Sie müssen sich vorstellen, dass es derzeit für viele Roma ja nicht einmal möglich wäre, einen Job zu bekommen, da sie keine legalen Adressen haben. Sie leben meist auf irgendeinem besetzten Land, wo es keine Straßennamen oder Infrastruktur gibt. Ohne festen Wohnsitz ist aber die Suche nach einer regulären Beschäftigung völlig hoffnungslos.
Das nächste Hindernis ist die fehlende Bildung. Die meisten Roma-Kinder werden derzeit einfach in Sonderschulen für geistig behinderte Kinder gesteckt. So kommen sie jedoch nie zu der notwendigen Bildung, die heute Voraussetzung für fast jeden Beruf darstellt.
Auch die Regierung versucht nun einiges zu tun. Serbien nimmt an der „Decade of Roma Inclusion 2005–2015“ teil und hat seit 1. Juli sogar den Vorsitz der Kampagne inne. Es ändert sich zumindest atmosphärisch einiges.
- Was Roma und andere Arme gemein haben, sind unter Umständen die notwendigen Überlebensstrategien. Wie versuchen die Betroffenen mit Armut umzugehen?
- Für mich ist es immer wieder erstaunlich, dass diese Leute überhaupt überleben können. Aber sie schaffen das irgendwie. Nehmen wir zum Beispiel eine alte Frau, die mit 110 Euro im Monat auskommen muss. Ich kenne so eine Dame persönlich. Von diesem Betrag muss sie die Hälfte für Medikamente ausgeben. Wie sie mit dem verbleibenden Rest überlebt, ist mir ein Rätsel.
Es existieren in Serbien noch informelle Solidaritätsnetzwerke oder kleine Ersparnisse aus besseren Zeiten, mit denen man irgendwie über die Runden kommt. Wichtig sind zudem die Verwandten auf dem Land. Am Wochenende ist Belgrad leer gefegt. Am Sonntag kommen die Leute dann mit Nahrungsmitteln von den Dörfern zurück. Wir haben auf den serbischen Wochenmärkten und in den Geschäften unglaublich hohe Preise. Die meisten Lebensmittel kosten mehr als in Westeuropa.
- Warum? Angesichts des sonstigen Lohn- und Preisniveaus ist das ziemlich absurd.
- Es gibt ein Monopol einiger Manager, die die Lebensmittelpreise in die Höhe treiben. Dadurch sind Lebensmittel zu Marktpreisen für viele nicht mehr leistbar.
- Klingt nach einer Rückkehr zu einer Art Subsistenzwirtschaft.
- Nicht ganz, aber Arme, die keine Unterstützung von Verwandten haben, haben wirklich kaum Zugang zu leistbaren Nahrungsmitteln. Was sich daraus entwickelt hat, ist keine Subsistenzwirtschaft, aber informellere Überlebensstrategien als sie etwa in westeuropäischen Staaten notwendig sind.
- Welche Rolle spielt dabei die Migration? Es gibt ja schon seit der „Gastarbeitermigration“ in den 1960er Jahren Tausende Familien in Westeuropa, die auch ihre Familien zu Hause unterstützt haben.
- Migranten sind Teil dieser informellen Solidaritätsnetzwerke. Sie sind heute jedoch nicht mehr so wichtig wie noch vor einigen Jahren. Wir Serben haben nicht so enge Familienstrukturen wie etwa die Kosovo-Albaner. Auch für die Migranten selbst ist die Situation im Westen schwieriger geworden. Ihnen bleibt kaum mehr Geld, das zu den Verwandten nach Serbien überwiesen werden kann. Andererseits ist es für die vorher erwähnte Frau einfach schon ein gewaltiger Unterschied, ob ihr jemand 20 Euro zusätzlich überweist oder nicht. Die neuen serbischen Migranten sind alle sehr jung und konnten sich im westlichen Ausland noch nicht etablieren. Deshalb ist die finanzielle Unterstützung heute geringer geworden.
- Bertolt Brecht ließ in einem seiner Gedichte einen armen Mann an einen Reichen gerichtet sagen: „Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Wir wissen nun, wer in Serbien arm ist, wer aber ist reich und profitiert von dieser Situation?
- Ganz oben sind die Tycoons aus der Ära Milošević, die von den Sanktionen und vom Krieg profitiert haben. Diese Leute sind bis heute auch politisch sehr einflussreich und können damit zudem ihren Reichtum verteidigen und vermehren. Sie agieren ausschließlich für ihren wirtschaftlichen Profit und übernehmen keinerlei soziale Verantwortung.
Dann gibt es die Gruppe von neuen Managern und Finanzexperten, die in den letzten acht Jahren für den Arbeitsmarkt wichtig geworden ist. Diese Leute verfügen über gute Einkommen von internationalen Organisationen oder multinationalen Konzernen.
Was alle diese Wohlhabenden gemein haben ist, dass es sich um urbane Schichten in der Altersgruppe zwischen 40 und 60 handelt. Selbstverständlich verstecken sich auch einige auf dem Land, damit sie keine Steuern zahlen müssen oder nicht für irgendwelche Verbindungen zur organisierten Kriminalität zur Rechenschaft gezogen werden können. Die Mehrheit lebt in den großen Städten, während der ländliche Raum verarmt. Die meisten sind eben schon über 40. Jüngere Leute, die mit teuren Schlitten durch die Gegend fahren, sind fast immer Kriminelle.
Thomas Schmidinger ist Lektor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und Vorstandsmitglied der Liga für emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit (LEEZA).

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Juli 2008

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