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Was soll ich fürchten?

Nach Angaben des russischen Journalisten­verbandes wurden in Russland im Zeitraum von 1991 bis Oktober 2006 261 Berichterstatter ermordet. Jewgenija Albaz schweigt trotzdem nicht.

redaktionsbüro: Eduard Steiner
Jewgenija Albaz:
- Mitunter mache ich mir ernste Gedanken über das schlechte Image Russlands in der Welt.
- Sie haben Sorgen! Mich interessieren die Menschenrechte und die Meinungsfreiheit in meinem Heimatland. Mich beunru­higt, was die staatlichen Behörden machen. Ich halte es nicht für notwendig, irgendein Image zu verteidigen.
- Darauf wollte ich gar nicht hinaus. Aber scheint es Ihnen nicht auch so, dass das Ansehen Ihres Landes tief gesunken ist?
- Ja, doch das beunruhigt mich nicht. Das Image Russlands ist ja nicht nur ein negatives: Deutschlands Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder hat der gesamten westlichen Staatengemeinschaft erklärt, dass Putin ein „lupenreiner Demokrat“ sei. Man hatte den Eindruck, dass viele Deutsche, die in Russland Business betreiben und Gewinne machen, vor allem durch Gasgeschäfte, durchaus bereit sind, Schröders Aussage so zu unterschreiben. Schröder hat nie wie wir in einem Käfig gelebt. Er weiß nicht, was es heißt, am Mangel an Freiheit, wie am Mangel an Luft, fast zu ersticken. Die Ostdeutsche Merkel versteht – aus ihrer eigenen Biografie heraus – unsere Tragödie offensichtlich besser.
- Hat sich der Mord an Anna Politkowskaja in irgendeiner Form auf Ihr eigenes Leben ausgewirkt?
- Er hat mich persönlich natürlich sehr getroffen, denn wir haben gemeinsam auf der Journalistenfakultät studiert und wohnten ein Haus voneinander entfernt. Professionell habe ich mich davon nicht beeinflussen lassen, ebenso wenig wie durch die früheren Morde an Berufskollegen. Auf der ganzen Welt ist Journalismus gefährlich. Es ist kein Beruf für schwache Nerven.
- Auch starke Menschen können Angst haben. Sie nicht?
- Ich bitte Sie! Ich habe unter dem Sowjetsystem gelebt. Als meine Tochter 1988 zur Welt kam, recherchierte ich als Journalistin über den KGB und erhielt umgehend einen Anruf mit dem diskreten Hinweis, dass ich daran denken solle, dass ich ja nicht nur Journalistin, sondern auch Mutter sei. Was soll ich jetzt fürchten, wenn mir schon damals niemand Angst eingejagt hat? Wenn du Journalistin bist, darfst du dich nicht fürchten. Andernfalls musst du den Beruf aufgeben, über Blumen schreiben oder Radieschen züchten.

Ich könnte mir vorstellen, dass es auch für Sie Themen gibt, die Sie derzeit lieber nicht an­tasten.
Nein. Ich erlege mir keine eigene Zensur auf. Aber ein Umstand, der meine Themenwahl wohl beeinflusst, ist jener, dass Recherchen in Russland derzeit sehr schwer durchzuführen sind. Die Staatsorgane geben sich – im Unterschied zu früher – völlig verschlossen, man kann nicht einmal mehr zu ihnen vordringen. Meine Informanten aus allen Bereichen haben Angst, Familiennamen und Daten zu nennen. Jede auch noch so beliebige kritische Ziffer wird aus vorauseilendem Gehorsam lieber nicht rausgerückt. Angesichts dieser kollektiven Angst vor Herausgabe jeglicher Informationen beruft man sich bei Nachforschungen immer öfter auf anonyme Quellen. Das tötet die Kultur der unabhängigen – und damit transparenten, nachvollziehbaren – Recherche vollends.
- Ich gehe davon aus, dass Sie Drohungen ­erhalten.
- Ich denke, das ist Teil des Berufs. Ich bin schon wachsam und treffe Vorkehrungen, soweit dies möglich ist. Aber ich bin trainiert, denn ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen. In den vergangenen Jahren haben die Drohungen insofern zugenommen, als ich auf allen möglichen Abschusslisten, die im Internet kursieren, aufscheine. Im Irak oder in Tschetschenien als Journalistin zu arbeiten ist jedoch weitaus schwieriger als in Moskau.

- Stellt der Mord an Anna Politkowskaja einen Wendepunkt oder doch nur ein weiteres Ereignis im russischen Journalistenalltag dar, das früher oder später zu erwarten war?
- Wissen Sie, ein Mord in Russland ist grundsätzlich eine sehr gewöhnliche Sache. Vor drei Jahren wurde Juri Schtschekotschichin, ein Journalist der „Nowaja Gaseta“ und Duma-Abgeordneter, ermordet, weil er über den von Geheimdienstmitarbeitern gedeckten Schmuggel von Möbeln recherchierte. Es wurde nicht einmal Anklage in dieser Sache erhoben. Später wurde der amerikanische Herausgeber der russischen Ausgabe des „Forbes“-Magazins Paul Chlebnikow exekutiert. Bis heute steht die diesbezügliche Aufklärung aus.
Mit der Ermordung Politkowskajas passierte für uns nichts Neues. Anna war sehr berühmt, eine sehr harte und unversöhnliche Kritikerin der jetzigen Staatsmacht und vor allem Putins persönlich. Durch den Mord an Anna sahen viele ihre These bestätigt, dass unserem Land ein terroristisches Regime vorsteht.
- Denken Sie, dass der Mord aufgeklärt werden wird?
- Wenn russische Staatsorgane darin verwickelt sind, dann nein. Ich vermute, dass an diesem Mord Polizeikräfte der Russischen Föderation mitgewirkt haben. Ich denke, das schreckliche Ereignis hat den westlichen Beobachtern ein wenig die Augen geöffnet. Bisher schien ihnen ja, dass die Russen noch wilde Bären sind, die die westlichen Freiheiten nicht brauchen. Sie nahmen an, dass in Russland völliges Chaos herrscht, dass alle stehlen und ein starker Präsident das Zepter in der Hand hält. Der Mord an Politkowskaja hat aber gezeigt, dass unserem Land keine starke Macht vorsteht, sondern eine völlig zerfallende Institution namens „Staat“. Es stellt eigentlich ein Konglomerat unterschiedlicher Business-Strukturen dar, das unter Gebrauch der Landesressourcen und des Staatsbudgets Kapital schafft. Verschärfend kommt hinzu, dass man nicht mehr wie noch unter Jelzin bei all diesen Vorgängen „frische Luft schnappen“, Recherchen durchführen und sie publizieren kann. Unter Putin wurde es sehr schwer, zu atmen, und völlig unmöglich, investigativen Journalismus zu betreiben.
- Verstehe ich Sie richtig: Sie würden die neunziger Jahre heute vorziehen, obwohl ja bekannt ist, dass sich die Medien damals im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl 1996 kaufen ließen, um mit allen Mitteln Jelzin zu unterstützen?
- Wissen Sie: Ich habe mich nie an jemanden verkauft. Seit 1986 arbeite ich investigativ. Einen bestellten Artikel habe ich nie geschrieben. Diese Verallgemeinerungen gefallen mir nicht. Ich trete nur als ich persönlich auf.

- Ich frage auch Sie persönlich: Halten Sie die neunziger Jahre für besser?
- Ja, ohne Zweifel. Denn für mich waren diese Freiheiten selbst angesichts des bekannten Chaos und des kriminellen Durcheinanders wertvoller als der Anspruch auf Sicherheit, die in Wirklichkeit nicht existiert. In den neunziger Jahren stieg zumindest jede dritte Zeitung auf die Publikation heiklen Materials ein. Damals konnte ich in beinahe jedes Ministerium gehen, Informationen erhalten, mich mit Staatsbeamten treffen und ihnen Fragen stellen. Gegenwärtig ist das unmöglich.
- Aber in den neunziger Jahren hatten die Oligarchen die Fäden in der Hand.
- Ich habe viel im Westen gearbeitet. Dort besitzt meist irgendeine konkrete Person ein Medium. Wenn in Russland ein Medium etwa Wladimir Gussinski gehörte, so wurde das als oligarchisch gebrandmarkt. Warum eigentlich? Woher kommt in der westlichen Wahrnehmung diese Verzerrung? Woher nehmt ihr im Westen eure Überzeugung, zu wissen, wie man guten und ehrlichen Journalismus betreibt? Vielleicht ist es in Wirklichkeit sogar so, dass ihr im Westen von uns lernen könnt. Verzeihen Sie mir meine Unverfrorenheit: Ich habe nicht gesehen, dass es im Westen viele qualitative Nachforschungen gab. Wir dagegen haben solche durchgeführt.
- Ich meinte den Pluralismus der neunziger Jahre. Er war doch gewissermaßen ein „oligarchischer“, der angesichts des heutigen Putin-Regimes meines Erachtens verherrlicht wird.
- Natürlich gab es in den Neunzigern Einschränkungen in der Meinungsfreiheit. Aber dadurch, dass die Medien zu unterschiedlichen Business-Strukturen gehörten, wurde trotz der Einflussnahme Pluralismus gewahrt. Damals gehörten dem Staat weniger als 34 Prozent der bundesweiten Medien, jetzt sind es 98 Prozent. Man soll den Oligarchen-Kapitalismus in Russland nicht derart brandmarken, er existierte in vielen Ländern der Welt. Auch gegenwärtig haben wir Monopole: „General Motors“ etwa oder die „Times Corporation“ in den USA. Die verteidigen ihre Interessen auch aggressiv. In Russland, wo es an jedweder Zivilgesellschaft mangelt, hat diese Form von Kapitalismus eine scheußlichere Form angenommen. Dadurch hat jedoch der Journalismus nicht aufgehört, Journalismus zu sein.
- Und heute?
- Heute werden die Leiter der TV-Kanäle und Zeitungsredaktionen Donnerstag für Donnerstag ins Kremlbüro von Vizeadministrationschef Wladislaw Surkow gerufen, um zu erfahren, was als Nachricht an welcher Stelle zu bringen ist. Mit gigantischen Löhnen werden die Journalisten gekauft. Im Gespräch mit uns erzählen sie dann, wie widerlich es ist, fürs Staatsfernsehen zu arbeiten. Das russische Fernsehen zielt auf allen Kanälen darauf ab, den Leuten ohne Ende zu sagen: „Don’t worry, be happy.“ Seien Sie nicht beunruhigt, lachen Sie, scherzen Sie und denken Sie nicht über die Probleme nach, mit denen Sie konfrontiert sind! Die Leute spüren trotzdem, dass das Lügen sind, weil sie im realen Leben sehen, dass die Preise und die Kriminalität steigen, in gleichem Maße wie die Bestechungsgelder, die das „Business“ an die Beamten zahlt. Sie sehen, dass ihre Rechte allenthalben verletzt werden. Wir haben das alles bereits unter der Sowjetmacht durchlebt. Wir haben schon einen entwickelten Sozialismus aufgebaut. Verstehen Sie: Wir verfügen über eine riesige Erfahrung. Wir besitzen eine fantastische Überlebensfähigkeit. Wir können – leider – ohne all das leben.
- Das Auditorium Ihres Senders „Echo Moskvy“ ist im Vorjahr auf beachtliche 600.000 Hörer angestiegen.
- Kein Wunder, denn die Leute haben die Propaganda satt. In jedem Ministerium, im Kreml und in der Regierung läuft ständig „Echo Moskvy“, weil man nach Information lechzt. Neulich etwa hatte ich eine Zwei-Stunden-Sendung zum Thema Zivilgesellschaft. Ich habe den Hörern die Frage gestellt, wem sie mehr vertrauen: der Staatsmacht oder den Einrichtungen der Zivilgesellschaft. 95,6 Prozent antworteten zugunsten der Zivilgesellschaft. Und das, obwohl in allen Kanälen über den wunderbaren Präsidenten Putin erzählt wird, den Vater der Völker und großen Bruder, der alle ihre Probleme löst. Daran glauben die Leute längst nicht mehr.

- Eine gewisse neue Stabilität sehen Sie nicht?
- Nein, weil wir in ein Wahljahr eintreten. Putin ist ein Schützling der Bürokratie, der Nomenklatur und des Großkapitals, das Geld mit Öl-, Gas-, Nickel- und Titangeschäften macht. Diese Leute haben Angst davor, dass, wenn Putin geht, die Frage bezüglich der Legitimität des Kapitals gestellt wird, das sie in den vergangenen sechs Jahren angehäuft haben. Eine ganze Reihe von Leuten in der engeren oder entfernteren Präsidentenumgebung fürchtet, dass man ihnen ihr Eigentum wegnehmen könnte.
-
Glauben Sie, dass mehr Druck aus dem Westen der Entwicklung einer russischen Demokratie helfen würde?
- Nein. Das Schicksal der Demokratie in Russland hängt von den Bürgern selbst ab – davon, wie viel sie an Freiheiten fordern. Ich als Demokratin zähle auf keine Hilfe von außen. Als Russland arm und die Ölpreise niedrig waren, konnte man Einfluss auf die Führung nehmen. Heute, da die Ölpreise jenseits von Gut und Böse sind, da Europa zu 44 Prozent vom russischen Gas abhängt, ist es völlig nutzlos, auf Druck aus dem Ausland zu bauen. In den ersten Jahren, als Putin diese unzähligen Abkömmlinge der widerlichsten Organisation der Sowjetunion, dem KGB, an die Macht brachte, hätte man noch etwas tun können. Damals aber haben alle die Augen verschlossen. Jetzt ist es zu spät.
<Nach Angaben des russischen Journalisten­verbandes wurden in Russland im Zeitraum von 1991 bis Oktober 2006 261 Berichterstatter ermordet – nur 21 Fälle davon wurden aufgeklärt. Demnach ist Russland das weltweit drittgefährlichste Land für Journalisten (nach dem Irak und China) und laut „Reporter ohne Grenzen“ eines der wenigen Länder in Europa, in denen kritische Publizisten um ihre Freiheit und ihr Leben bangen müssen.

Jewgenija Albaz, geboren 1958 in Moskau, studierte und begann noch zur Sowjetzeit über den KGB zu recherchieren. 1992 brachte sie ihr erstes, auch ins Deutsche übersetzte Buch „Geheimimperium KGB. Totengräber der Sowjetunion“ (dtv, München) heraus. Zu dieser Zeit publizierte sie auch wiederholt in westlichen Medien, etwa im „Spiegel“ oder der „Chicago Tribune“. Von 1996 bis 2003 veröffentlichte sie ihre investigativen Recherchen in der „Nowaja Gaseta“ – jenem Blatt, für das auch Anna Politkowskaja bis zuletzt arbeitete. 1996 absolvierte Albaz den Master-Lehrgang an der Harvard-Universität, wo sie 2004 auch über „Die Bürokratie und die russische Transformation“ dissertierte. Von 2002 bis 2003 unterrichtete sie an der Universität Yale. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie mit zahlreichen Preisen in Russland, Europa und den USA ausgezeichnet.

Eduard Steiner arbeitet als Russland-Korrespondent für die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ in Moskau.
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Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,April 2007
Link: REPORT online -