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„So läuft das nicht in der Ukraine“

Bernhard Odehnal im Gespräch mit Mykola Rjabtschuk

redaktionsbüro: Bernhard Odehnal
Mykola Rjabtschuk:
- Kann die politische Krise in der Ukraine durch die vorzeitigen Parlamentswahlen am 30. September 2007 gelöst werden?
- Die Wahlen stellen nicht die Lösung aller Probleme dar, aber sie können ein kleiner Schritt in Richtung Normalisierung sein. Vorzeitige Wahlen sind eine gute Schule für alle politischen Lager. Dadurch werden diese gezwungen, zu verhandeln und Kompromisse zu schließen. Ebenso wichtig ist es, dass die Wähler sehen, dass die Politiker nicht unauswechselbar sind – wie etwa in Russland oder in Weißrussland. Ich bin überzeugt, dass diese Wahlen einen positiven Effekt auf das Land haben werden – gleichgültig wer gewinnt.
- Zu diesen Wahlen treten dieselben Parteien mit denselben Parteiführern und denselben Parolen wie bei den vergangenen Wahlen an. Warum sollte sich etwas ändern?
- Die gegenwärtige Krise hat die Schwächen des Systems offengelegt. Die Ukraine hat diese völlig veralteten Sowjet-Institutionen geerbt, die in einer Demokratie nicht funktionieren. Die müssen ausgewechselt werden. Das Rechtssystem zum Beispiel muss von Grund auf reformiert werden. Wahlen stellen ein geeignetes Mittel dar, um die Politiker daran zu erinnern, dass sie sich auf Reformen einigen müssen. Tun sie es nicht, schlittern wir von einer Krise in die nächste.
- Eine Wahl nach der anderen könnte aber andererseits bewirken, dass die Menschen schnell müde und von der Demokratie enttäuscht werden.
- Die Menschen sind skeptisch, das stimmt. Aber Umfragen zeigen, dass sich die Ukrainer zur Demokratie bekennen. Ich glaube nicht, dass die Enttäuschung hierzulande so groß wird, dass die Bevölkerung einen autoritären Führer vorzieht. So läuft das nicht in der Ukraine. In diesem Land kann niemand eine klare Mehrheit bekommen.

- Sehen die Ukrainer Verbesserungen in ihrem Alltag seit der „Orangen Revolution“?
- Bürgerliche Freiheiten sind die wichtigsten Errungenschaften. Wir verfügen heute über Medienfreiheit, wir können alle Themen offen diskutieren, niemand ist vor Kritik gefeit – weder der Premierminister noch der Präsident. Es gibt viele Talkshows, darunter eine äußerst populäre TV-Sendung mit dem Titel „Redefreiheit“, die aus Moskau nach Kiew transferiert wurde, nachdem sie in Russland verboten worden war. Die Ukraine ist heute ein offenes Land. Die Demokratie in der Ukraine ist schwach, aber sie ist eine Demokratie.
- Und das Land profitiert vom Wirtschaftswachstum …
- Das ist ein sehr interessantes Phänomen! Trotz aller politischen Schwierigkeiten geht die Wirtschaft eigene Wege. Die Leute betreiben ganz normal ihre Geschäfte. Der freie Markt funktioniert.
- Wie stark ist die Korruption im Alltagsleben?
- Sehr stark. Es gab einen Rückgang gleich nach der Revolution. Die orange Regierung und besonders Regierungschefin Julija Timoschenko unternahmen viel, um die Korruption zu bekämpfen. Aber seit 2005 nimmt sie wieder zu.
- Dennoch blicken die Menschen eher optimistisch in die Zukunft?
- Sie sind von den politischen Führern enttäuscht, weil diese ihre Versprechen nicht halten. Aber die Einstellung gegenüber den Politikern ist nicht ausschließlich feindlich. Die Menschen sagen eher: „Es sind böse Buben, aber es sind unsere bösen Buben.“ 2005 und 2006, nachdem die orange Regierung auseinandergebrochen war und das Chaos begonnen hatte, herrschte im Land wirklich schlechte Stimmung. Heute spüren die Menschen das Wirtschaftswachstum und sie sorgen für sich selbst und werden selbstsicherer.
- Hat das Land durch die „Orange Revolution“ neues Selbstvertrauen bekommen?
- Ich glaube, schon. Die Menschen spüren, dass sie ihr Leben selbst bestimmen können. Dieses Gefühl kann durch die Politik wieder geschwächt, aber nicht mehr genommen werden. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Russland und der Ukraine: Wir haben keine Tradition des Absolutismus. Wir kennen nicht diesen bedingungslosen Gehorsam. Die Menschen hier sind eher individualistisch. Sie betrachten die Staatsmacht sogar mit Ironie.
- Sind Russland und die Ukraine wirklich so unterschiedlich, obwohl sie eine lange gemeinsame Geschichte haben?
- Sie dürfen die gemeinsame Geschichte nicht überbewerten! Wir gehörten jahrhundertelang völlig verschiedenen Zivilisationen an. Russland befand sich unter der Herrschaft der Tataren, während die Ukraine zum polnischen Commonwealth gehörte. Die Unterschiede zwischen den Ländern verschwanden erst im 19. und 20. Jahrhundert.

- Ist die Ukraine heute durch die Einmischung Russlands bedroht?
- Ja und nein. Wir können kleinere Grenzkonflikte nicht ausschließen, aber niemand glaubt an eine echte militärische Intervention. Wir sehen andere Arten der russischen Einmischung – in der Politik, in der Wirtschaft, bei den Massenmedien. Diese Interventionen können ziemlich aggressiv sein.

- Besteht noch immer die Gefahr, dass das Land in einen westlichen und einen östlichen Teil gespalten wird?
- Diese Idee findet in der Ukraine keine Mehrheit – weder im östlichen noch im westlichen Landesteil. Trotzdem haben die Menschen im Westen und im Osten ganz unterschiedliche Meinungen über die Vergangenheit und die Zukunft: Was ist die Ukraine eigentlich? Und was bedeutet es, Ukrainer zu sein? Sie verfolgen völlig verschiedene nationale Projekte, aber gleichzeitig verlangen sie, dass die Ukraine ungeteilt bleiben soll. Sie sind dazu verdammt, gemeinsam zu leben – in einem Land. Also müssen sie sich versöhnen.
- Zeigen sie auch Willen zur Versöhnung?
- Sie sind gerade dabei, das zu lernen. Bis zur „Orangen Revolution“ hatten sie dazu keine Gelegenheit, denn es gab nur eine Partei an der Macht, die alle manipulierte – den Osten, den Westen, die Linke und die Rechte. Nach der Revolution verschwand diese Gruppe rund um den ehemaligen Präsidenten Leonid Kutschma. Jetzt ist eine viel stärkere Polarisierung im Land wahrzunehmen, weil es im Zentrum keine politische Kraft mehr gibt. Aber trotz aller Streitereien sehen wir doch auch die Fähigkeit der neuen politischen Kräfte, Kompromisse zu schließen. Es gibt kein Blutvergießen und keine Straßenschlachten in der Ukraine. Das ist doch nicht so schlecht!
- Zieht Kutschmas Gruppe noch im Hintergrund die Fäden?
- Die Gruppe um Kutschma repräsentierte eine künstliche Welt. Und als diese verschwand, erkannten wir, dass dahinter keine echte Macht stand.

- Aber sie hatte doch wirtschaftliche Macht?
- In dieser Hinsicht ist die Ukraine sehr pluralistisch. Es gibt viele mächtige Clans. Kutschma war sehr geschickt darin, diese Gruppen gegeneinander auszuspielen und dann die Rolle des Schiedsrichters zu übernehmen. König Kutschma war mächtig, solange seine Vasallen ihn als Friedensstifter akzeptierten. Aber 2004 entschieden die Vasallen, dass sie keinen König mehr brauchen. Seither verhandeln sie direkt miteinander.
- Es stimmt also, dass Premierminister Wiktor Janukowitsch, Präsident Wiktor Juschtschenko und die ehemalige Regierungschefin Julija Timoschenko nur verschiedene Oligarchiegruppen vertreten?
- Bis zu einem gewissen Ausmaß schon. Aber sie müssen sich ihren Wählern anpassen. Wir haben in der Ukraine nur zwei Wählergruppen: die Sowjetophilen und die Ukrainophilen. Nachdem die Ukraine unabhängig wurde, wählten die Sowjetophilen die kommunistische Partei und die Ukrainophilen die liberale Nationalbewegung „Ruch“. Dann privatisierten die Oligarchen beide Wählergruppen. Die orangen Oligarchen übernahmen die Wähler von „Ruch“, die Partei der Regionen übernahm die Wähler der Kommunisten. Das ist auch der Grund, warum die kommunistische Partei heute fast verschwunden ist.
- Wie machten sich Janukowitsch und seine Partei der Regionen während ihrer Regierungszeit?
- Gleich nachdem sie an die Macht gekommen waren, führten sie wieder gewisse Arten der Korruption ein, die unter Julija Timoschenko abgeschafft worden waren. Das war schon sehr verstörend. Sie wollen alles monopolisieren. Deshalb sind sie gefährlich für unser Land. Diese Partei müsste einige Zeit in Opposition bleiben, um sich selbst zu verändern. Ich möchte die orangen Politiker nicht idealisieren, aber sie halten sich eher an gewisse Regeln. Sie sind nicht so habgierig wie die Politiker der Partei der Regionen. Orange Politiker sind ebenso unvollkommen wie andere Politiker in Mitteleuropa. Aber sie sind von der Gesellschaft lenkbar. Die Partei der Regionen ist nicht lenkbar. Sie möchte alle Macht für sich behalten.
- Erwarten Sie einen Sieg der orangen Kräfte am 30. September 2007?
- Ich würde es mir wünschen. Aber ich fürchte, dass sich die Partei der Regionen in einer besseren Position befindet, denn sie ist korrupt. Sie weiß, wie man Wähler kauft und wie man Kleinparteien besticht, um deren Unterstützung zu bekommen. Sie hat sehr viel Geld. Wenn also die orangen Parteien regieren wollen, müssen sie all ihre Sympathisanten mobilisieren und einen klaren Sieg erringen.
- In diesem Fall würde Julija Timoschenko die nächste Regierungschefin werden?
- Es sieht so aus. Und ich glaube nicht, dass sie eine schlechte Premierministerin wäre. Sie bräuchte nur einen Aufpasser. Ich hoffe, dass sie und Präsident Juschtschenko aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben. Wenn nicht, laufen beide Gefahr, politischen Selbstmord zu begehen.
Mykola Rjabtschuk
„Die reale und die imaginierte Ukraine“
edition suhrkamp, Frankfurt am Main 2006
Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot

Bernhard Odehnal (geboren 1966) ist seit 1964 Mitteleuropa-Korrespondent der Schweizer Tageszeitung „Tagesanzeiger“. Er studierte Slawistik und arbeitete für die Zeitschriften „Falter“, „Profil“ und „Weltwoche“.

Text erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,August 2007
Link:REPORT online - Link: Suhrkamp /Mykola Rjabtschuk "Die reale und die imaginierte Ukraine" - Link: Kritika.Magazine on art, literature and culture -