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„Diese lachhaften Visa, das ist tiefes 19. Jahrhundert!“

Karl Schlögel im Gespräch

redaktionsbüro: Bert Rebhandl
Karl Schlögel:
- Herr Schlögel, wo liegt denn Marjampole, die Stadt, deren Namen auch Ihr neues Buch trägt?
- Marjampole ist kein allzu bekannter Ort. Selbst wenn man ihn Litauern nennt, sehen die Menschen einen dort skeptisch an. Sie denken bei dem Namen vermutlich an dubiose Geschäfte. Ich bin auf ihn aufmerksam geworden, weil es in den neunziger Jahren auf dem Berliner Ring immer diese Konvois von litauischen Autos gab, sowohl von privaten Personenwagen wie auch von Autotransportern. Ich bin der Frage nachgegangen, wohin diese Trecks führten, und fand heraus, dass es im Dreiländerdreieck von Polen, Weißrussland und Litauen diesen Ort Marjampole gibt, der für einen riesigen Autobasar bekannt ist.
Später habe ich ihn sogar einmal vom Flugzeug aus gesehen – ein enormer Parkplatz. Marjampole erscheint mir als eines dieser Relais, die Europa ausmachen: Es ist ein Basar, der aber eben auf Autos spezialisiert ist. Für mich stellt er einen Ort nachholender Automobilisierung dar, und damit ein bedeutendes Moment der Transformation. Man kann daraus ersehen, dass die Menschen nicht darauf warteten, dass der Staat irgendwelche Programme für sie entwarf, als sie ihre Arbeit verloren. Hunderte, Tausende von Leuten sind in dieses Business gegangen, das sich in Westrichtung zwischen dem Ruhrgebiet und Belgien und Litauen erstreckt. Es handelt sich dabei um von heute auf morgen arbeitslos gewordene Menschen, die das irgendwie aufgefangen haben und jetzt die Gebrauchtwageninserate in deutschen Regionalzeitungen studieren. Sie haben Eigenverantwortung übernommen.
Ein drittes Moment, das mich interessiert: Marjampole ist ja nur eine Vermittlungsstelle. Die Autos gehen weiter nach Duschanbe oder Taschkent, zum Teil en gros. Da passiert viel mehr als nur der Verkauf eines Autos. Ich muss dabei immer wieder an den Begriff Karawanserei denken, an die Weltläufigkeit, die darin impliziert ist. Für mich sind diese Leute eigentlich Helden, weil sie das Alltagsgeschäft der Normalisierung betreiben.
- Sie nennen diese Menschen die „Konterbandisten des Ausgleichs“ – ein schöner Begriff. Er birgt aber auch eine Problematik in sich. Denn die europäischen Institutionen und die Politik wollen eine Transformation von oben, einen geregelten Wandel und Ausgleich. Was Sie jedoch beschreiben, ist ein riesiger informeller Sektor.
- Ich habe verschiedene Versuche unternommen, dass diese beiden Sphären miteinander in Verbindung treten. Es wäre viel besser, wenn es weniger Konferenzen zum kulturellen Selbstverständnis und dafür mehr Kontaktaufnahme dieser Sphären gäbe. Hier die fleißigen und eifrigen EU-Bürokraten – sie bewegen sich in ihren Korridoren – dort die LKW-Ströme, die Zollabfertigung, die Bahnhöfe, die Billigflieger, die Warteschlangen vor den Botschaften, natürlich auch der Frauenhandel. Das sind die Ströme, die sich mit denen der Bürokratie kaum berühren.
Malgorzata Irek, die eine Langzeitstudie über den Schmuggelzug zwischen Berlin und Warschau publizierte, fand heraus, dass sich etwas verändert hat. Dass die berühmte „polnische Putzfrau“ in Berlin für eine ganze Generation äußerst erfolgreicher Unternehmerinnen steht. In diesen Kriechströmen passieren die Dinge. Wenn Europa etwas werden soll, muss es sich auf diese ameisenhafte Tätigkeit einstellen. Die heroische Phase der individuellen Krisenbewältigung ist vorüber, eine gewisse Stabilisierung ist eingetreten.
- Heißt das, es gibt zu wenig Wissen über den Alltag Europa?
- Nein, Wissen ist vorhanden. Wenn man etwa jemanden trifft, der einem erzählt, dass er aus Bayern in die Ukraine gegangen ist, um in Odessa eine alte Brauerei, die vor dem Krieg schon bayerisch war, zu modernisieren, dann durchlebt dieser damit im Grunde die ganze Geschichte des Neuen Europa.
Diese Leute, die vor Ort arbeiten, zum Teil, als wären sie mit dem Fallschirm abgeworfen worden, die keine Osteuropa-Experten sind und auch keine Transformationsexperten, die sind existenziell darauf angewiesen, es ganz genau und ernst zu nehmen. Das Eröffnen einer Bank, einer Supermarktfiliale – das bedingt eine unglaublich konkrete Expertise, die man heute an keinem Institut bekommen kann.
- Innerhalb Osteuropas gibt es ein Nord-Süd-Gefälle. Das Baltikum scheint sich schneller umzustellen als etwa Bulgarien oder Rumänien. Die Türkei bildet – auch religiös und kulturell – eine Schnittstelle. Wie sehen Sie die Zukunft der Türkei in Europa?
- ch bin nicht für einen Beitritt der Türkei als Vollmitglied der EU. Ich bin dafür, das europäische Erbteil des Osmanischen Reichs ernst zu nehmen und die Türkei ganz offensiv an Europa heranzuziehen. Aber ich bin gegen eine flächendeckende, schematische Integration. Die EU hält das auf lange Sicht nicht aus.
Wir müssen Formen entwickeln, die intelligenter und genauer sind, das Europäische in der Türkei zu aktivieren. Ich arbeite mit dem Bild des Verzahnens. Es bedarf der Schaffung von Scharnieren, von irreversiblen Punkten der Zusammenarbeit. Solange alles jenseits einer Vollmitgliedschaft als minderwertig erscheint, ist das natürlich schwierig.
Auf dem Hintergrund der russischen Erfahrung ist die Modernisierung der Türkei eine der großen Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts. Wenn man die Auflösung des Russischen und des Osmanischen Reichs vergleicht, dann gibt es viele erstaunliche Parallelen, inklusive des Großverbrechens, das am Beginn der modernen Türkei steht, und der ungeheuren Gewaltentfaltung in der Sowjetunion. Auf lange Sicht ist die Modernisierung der Türkei eigentlich nachhaltiger gewesen.
- Inzwischen ist ein Vollbeitritt zur EU auch in der Türkei eine Frage des Nationalstolzes.
- Er ist dazu gemacht worden und das ist sehr schlecht. Ich bin ein Türkei-Fan, bin sehr beeindruckt von der Vermittlung von Tradition und Moderne, von der traditionellen Arbeitskultur und dem, was durch die Zugehörigkeit zur NATO, zum „Westen“, ins Land gekommen ist. Ich bin voller Bewunderung dafür, wie die modernen türkischen Städte „ticken“, wohlgemerkt immer auch auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen in Russland, wo eine ungeheure Verlangsamung und Erschwerung herrscht.
- Wo endet denn „Ihr“ Europa?
- Europa in erster Linie ein Ort, eine kleine Halbinsel an der eurasischen Landmasse, wie Paul Valéry gesagt hat. Normalerweise geht die Rede: Europa ist nicht nur ein Ort, sondern ein System von Werten. Ich definiere Europa als Ort. Hier gab es Adolf Hitler und Walter Benjamin, Lenin und Chagall, Glanz und Absturz. Man kann sich nicht nur das Schöne heraussuchen. Der Ort mit allen Unschärferelationen ist dann eben der Kontinent, bis zum Ural, bis nach Kleinasien. Die ganze Ägäis war ein europäisches Meer.
Ich bin natürlich der Meinung, dass Russland ein Teil der europäischen Kultur ist, aber ich würde nie sagen, dass man Russland in die Union aufnehmen sollte, da das tatsächlich ein Kontinent eigener Ordnung ist, der eben bis zum Pazifik reicht.
Ich bin für eine Erhöhung der Durchlässigkeit der Grenzen und für stärkere Mobilität. Heute schon gibt es Korridore zwischen den Städten, zum Beispiel zwischen Moskau, Minsk und Warschau. Es ist sensationell, was etwa in der Ukraine geschieht. Dort gibt es eine einseitige Öffnung, das ist wie ein zweiter Fall der Mauer. Man kann ohne Visum nach Kiew kommen und die Urmutter der osteuropäischen Städte ansehen. Die zur Routine werdende Nachbarschaft ist das Fundament Europas. Diese lachhaften Visa, das ist tiefes 19. Jahrhundert! Wir müssen andere Formen der Sicherheit finden. Die großen Gewinner einer modernen Visumspraxis wären nicht die Kriminellen, sondern die einfachen Leute.
- Sie sind weder Soziologe im klassischem Sinne noch Statistiker. Wie würden Sie die Methode der Beobachtung bezeichnen, die Sie verfolgen?
- Ich habe eine andere Matrix. Ich muss bestimmte Städte regelmäßig besuchen (in Moskau muss man sogar alle Vierteljahre sein), bestimmte Strecken regelmäßig befahren und führe darüber eine Art Langzeittagebuch. Das sind meine Versuche, den Prozess der Transformation zu messen. Es gibt Städte, die „aus dem Schneider“ sind. Das kann man für Krakau sagen, für Posen, für Breslau. Dort hat sich eine Verstetigung gegen die Knalleffekte durchgesetzt. Dort gibt es nicht nur kosmetische Korrekturen, sondern eine Regeneration. Ich suche Anzeichen der Erneuerung, die gegenteiligen Anhaltspunkte des Zusammenbruchs, der Verbitterung. Die Zwangsindustrialisierung etwa kann man ja freien Auges sehen. Viel interessanter sind die fast unsichtbaren ersten Anzeichen: Kündigt sich da etwas an? Wird das stark genug sein, um sich durchzusetzen? Das ist meine Matrix der Beobachtung.
- Sie lehren heute an der Europa-Universität Viadrina. Wird diese Institution diesem Titel bereits gerecht?
- Ich muss Ja und Nein sagen. Fast vierzig Prozent der Studierenden sind aus Osteuropa, vor allem aus Polen. Die Situation ist dadurch eher binational und nicht plural. Das bedeutet noch nicht, dass alle sich auf diese Europäizität eingestellt haben. Es gibt auch sehr starke konventionelle Momente. Die Möglichkeiten, in einem neuen Territorium zu operieren, werden noch nicht genügend genützt. Die jetzt ausgebildete Generation von Studierenden ist jenseits der historischen Erinnerung an Solidarnosc und DDR aufgewachsen und bewegt sich wie selbstverständlich auf beiden Seiten der Grenze. Die Bildung einer wirklichen Europa-Universität wird dieser Generation obliegen.
Karl Schlögel, Jahrgang 1948, war Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz, bevor er 1994 an die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder ging. 2002 erschien das Buch „Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang“. Seine jüngste Veröffentlichung ist „Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte“ (jeweils im Hanser Verlag erschienen).

Das Gespräch führte Bert Rebhandl. Er lebt als freier Journalist und Autor in Berlin.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,September 2005
Link:REPORT online -