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Wo ist Mr. Europa?

Und wer will das überhaupt sein? Michael Prüller im Gespräch mit Erhard Busek

redaktionsbüro: Michael Prüller
Erhard Busek:
- Europa in der Krise – ist das das große Erneuerungserlebnis oder der Anfang vom Ende der europäischen Integration?
- Es mag vielleicht verwundern, aber ich halte diese Krise für notwendig und sehr gut. Sie ist eine Art Ohrfeige in das Gesicht der Regierenden. Es wurde ihnen Nachdenklichkeit verordnet, wie man eine sinnvolle Strategie entwickeln und Europa den Bürgern vermitteln kann.
Weiters ist die Frage der Handlungsfähigkeit Europas angesichts der Globalisierung von entscheidender Bedeutung: Die Amerikaner sagen uns immer, die Europäer seien eher „Global payer“ denn „Global player“. Wir trügen selbst Schuld an unserer Handlungsunfähigkeit. Insofern hat der jetzt abgelehnte Vertrag zu kurz gegriffen: Ein Außenminister ohne Armee und Regierung ist einfach zu schwach. Damit kommt Europa an den kritischen Punkt: Will Europa sich selbst – oder nicht?
- Ist nicht eines der Hauptprobleme, dass es kein gemeinsames, konkretes Ziel des Integrationsprozesses gibt?
- Rhetorisches wie „Wir müssen Europa schaffen“ hat vielleicht in den fünfziger Jahren eine konkrete, vergemeinschaftete Bedeutung gehabt.
Für die Generation der fünfziger Jahre war die Bewältigung der Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs der eigentliche Inhalt der europäischen Integration: also das Friedenskonzept. Das ist aus den Vorstellungen verschwunden, da der Frieden selbstverständlich geworden ist.
Das Interessante ist, dass wir keine Antwort auf den Satz haben, den uns Jacques Delors hinterlassen hat: „Europa eine Seele geben“. Es bleibt damit die Frage: Was ist der eigentliche Inhalt Europas? Wobei das nicht nur geografisch zu bestimmen ist.
- Wie weit würden Sie die Integration gerne sehen?
- Ich würde durchaus die Diskussion darüber eröffnen, ob es nicht doch einer europäischen Regierung bedarf. Ob nicht der Schritt in Richtung Bundesstaatsmodell, mit Zweikammernsystem, das Richtige wäre. Das Europäische Parlament bewegt sich in Richtung von Parteienformation, was ich für richtig halte, weil ich glaube, dass wir europäische Parteien benötigen. Als Kontrapunkt bräuchte es dann auch einen Senat à la USA oder Schweiz.
Im Moment befinden wir uns allerdings eher in einer Desintegrationsdiskussion, in einer Phase, in der die Unterschiede und nicht die Gemeinsamkeiten betont werden: Diskussionen wie „Neokonservative Konzepte gegen Sozialstaat“ und Ähnliches – wobei das furchtbar falsche Vereinfachungen sind, die nichts zur Lösung beitragen.
- Überfordern wir nicht den Einigungsprozess? Andere Staaten haben viel länger gebraucht, um eine einheitliche Identität aufzubauen.
- Was fehlt, ist eine Identitätsstrategie. Dabei geht es nicht nur um Geld, es bedarf zudem einer künstlerischen, literarischen Diskussion, was Europa bedeutet. Die existiert zwar in einem gewissen Spektrum, aber die Verbindung zur Politik besteht zu wenig.
- Was fehlt für den Brückenschlag zwischen kulturellem Europabewusstsein und der Politik?
- Was es nicht gibt, und das ist instrumental für die Situation, ist eine europäische Öffentlichkeit. Eine primitive Schuldzuweisung an Medien würde zwar zu kurz greifen, aber eine ganze Reihe einfachster Elemente der heutigen Medienlandschaft existieren auf europäischer Ebene nicht. Es gibt beispielsweise keinen europäischen Anchorman. Es gibt keine europäische Talkshow. Wenn Sie eine europäische Zeitung lesen wollen, müssen Sie zu „Financial Times“ oder gar „Herald Tribune“ greifen.
- Es gibt also nicht nur keine Öffentlichkeit, sondern auch nichts, was die Öffentlichkeit mit Europa identifizieren könnte?
- Kurz: Es gibt nicht den Mr. Europa.
- Könnte der in der Verfassung vorgesehene Außenminister so jemand sein?
- Nein. Der Außenminister muss zu oft im Ausland sein.
- Der Kommissionspräsident?
- Wenn er eine starke Figur ist wie Jacques Delors, dann am Ende ja – aber nicht vom System her. Delors hat etwas Kluges gemacht: Er hat gesagt: „Wir brauchen ein konkretes Projekt.“ Wir hatten damals ja auch eine Krise – das Schlagwort war „Eurosklerose“. Delors hat gesagt: „Realisieren wir den gemeinsamen Markt.“ So etwas hat die gegenwärtige Kommission noch nicht zustande gebracht. Eine Zeit lang war das konkrete Projekt die Erweiterung. Was ist es jetzt? Wenn am Ende nur die Terrorismusbekämpfung übrig bleibt und dass wir gegen jede Migration sind, ist das sicher zu wenig.
- Zu den Folgen des Fehlens einer europäischen Öffentlichkeit gehört ein mangelndes europäisches Bürgerbewusstsein. Kann da überhaupt ein Staat Europa entstehen?
- Die Problematik liegt darin, dass die Regierungen den Eindruck vermittelt haben, Europa gehöre ihnen. Ich habe die 25 im Verdacht, dass sie sehr froh darüber sind, sich alles untereinander auszumachen, weil sie keiner Kontrolle unterliegen. Das Schönste für einen Machthaber ist es, nicht kontrolliert zu werden.
Da kommen sie zusammen und haben ein gemeinsames Mittagessen und vereinbaren etwas – zu Hause erzählen sie aber was ganz anderes. Beispiel Türkei: Zu Hause haben sie alle erzählt, es würde sehr, sehr lange dauern und müsse dann erst entschieden werden. Beschlossen haben sie jedoch, dass die Verhandlungen beginnen. Oder: Sie haben entschieden, einen Koordinator für die Terrorismusbekämpfung einzusetzen. Aber: Wenn die einzelnen Mitgliedsstaaten Informationen verweigern, was soll denn dieser arme Mensch dann koordinieren?
Es wäre jetzt notwendig, diesen Mängelkatalog plus Behebung anzugehen. Das wäre wichtiger als das Vertragswerk.
- Die Kontrolle der Machthaber wäre Aufgabe des Europäischen Parlamentes. Ist dieses – angesichts seiner nationalen Zersplitterung – dazu überhaupt in der Lage?
- Das Europäische Parlament besitzt nicht die Rechte dafür. Angesichts der Kritik der Kommissarbestellung hat es erstmals gezeigt, dass es am Leben ist. Das ist die richtige Richtung. Die Art und Weise, wie die Kommission bestellt wird, ist dabei kontraproduktiv. Wer übrig bleibt, wer entsorgt werden soll, wer bestimmte Interessen wahrnehmen soll, der kommt in die Kommission. Dementsprechend sieht sie dann auch aus. Der Kommission kann man gar nichts vorwerfen, denn sie ist so ausgesucht worden.
Bei den Mitgliedsstaaten liegt das Problem. Der Grundfehler ist: Die nationalen Regierungen kommen aus Brüssel heim und sagen: „Die haben in Brüssel beschlossen …“ Sie bekennen nicht, dass sie selbst es sind, die „beschlossen haben“.
- Sieht man nicht an der Haltung vieler Franzosen, die mit einem Nein gestimmt haben, dass es zwar eine regionale oder nationale Solidarität gibt, die sich aber nicht auf den Binnenmarkt Europa erstreckt?
- Für die Franzosen ist lange Zeit der Eindruck entstanden, dass sie in der Achse mit den Deutschen die Sache beherrschen. Dass war mit De Gaulle und Adenauer tatsächlich so, und auch noch mit Mitterrand und Kohl.
Mit der EU-Erweiterung stimmt das nicht mehr. All das Gerede um die „zwei Geschwindigkeiten“ oder „Kerneuropa“ und so weiter sind eigentlich Versuche der Wiederherstellung von alten Machtverhältnissen, bei denen offensichtlich wiederum gewisse Länder ausgeschlossen werden sollen. Aber Gott sei Dank: Die Großen sind nicht mehr so groß.
- Ist nicht das Unbehagen gegen den Binnenmarkt, das in Frankreich geäußert wurde, auch anderswo zu finden?
- Wir ernten im Grunde die Bedenken, die die Politiker selbst verbreitet haben. Es müsste irgendeiner einmal sagen, die Sieben-Jahre-Regelung der Freizügigkeit (der Zuzug von Arbeitnehmern aus den neuen Mitgliedsländern ist in verschiedenen Branchen sieben Jahre lang eingeschränkt, Anm.) ist ein blühender Unsinn für Österreich. Das wurde als großer Verhandlungserfolg hochstilisiert, daher können wir es jetzt nicht fallen lassen. Doch wir werden dafür die Rechnung zahlen: Wir bekommen dann einmal, wenn diese Regelung ausläuft, nur mehr die marginalen Arbeitskräfte, das, was übrig bleibt.
- Ist eine europäische Öffentlichkeit herstellbar, die den „polnischen Installateur“ als Landsmann und damit als legitimen Konkurrenten akzeptiert?
- Ich glaube: ja. Weil man darstellen kann, dass wir von der Erweiterung alle ungeheuer profitiert haben. Bisher drang das jedoch noch nicht durch.
- Wie lange wird die Krise anhalten?
- Ich glaube, das wird zwei, drei Jahre dauern. Das ist ein notwendiger Klärungsprozess, die Zeit ist gut investiert.
Michael Prüller ist stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung „Die Presse“.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,September 2005
Link:REPORT online -